Hermann Müller-Franken
 Die November-Revolution
 Erinnerungen

 I. Die Ursachen der Revolution

 Wer sich an die Novembertage des Jahres 1918 gerne erinnert, wird die Frage, ob wir überhaupt eine Revolution hatten, gefühlsmäßig ohne weiteres bejahen. Es gibt aber auch heute noch mit den Ergebnissen der Revolution unzufriedene Republikaner, die behaupten, daß sich in Deutschland gegen die Vorkriegszeit fast gar nichts geändert habe, daß wir sozusagen eine Monarchie mit einem republikanischen Vorzeichen hätten. Ich bin der letzte, der verkennt, wie viel noch zu tun ist, bis alle Einrichtungen der deutschen Republik von wahrhaft republikanischem Geist erfüllt sein werden, bis sich eine wirkliche demokratische Tradition in Deutschland entwickelt haben wird. Aber wir wollen über Mängeln der Republik von heute nicht vergessen, was eigentlich vor dem Kriege war.
 Vor dem Kriege waren die Träger der europäischen Reaktion der absolutistische Zarismus, der durch Schlamperei gemilderte Absolutismus der Habsburger und der den Volkswillen verachtende, sich auf die preußische Bajonette stützende Halbabsolutismus Wilhelm II. Fest schien von den Trägern der Reaktion nur das wilhelminische Reich zu stehen, das sich auf die vollkommenste Militärmaschine der Welt stützte. Dieser preußisch-deutsche Militarismus kapitulierte am 9. November 1918 vor dem Volke. Das war das Ende des Obrigkeitsstaates. Das Volk nahm nun sein Schicksal selbst in die Hand. Verdient dieser Systemwechsel nicht den Namen der Revolution?
 Andererseits gibt es gute friedliebende Demokraten in Deutschland, die behaupten, daß eine Revolution eigentlich gar nicht mehr nötig gewesen sei. Denn die Verfassungsänderung, die den parlamentarischen Staat in Deutschland begründen sollte, habe der Reichstag bereits vom 2. bis 26.Oktober 1918 beschlossen, und Wilhelm II: habe darunter am 28. Oktober 1918 seine Unterschrift gesetzt. Daß das unter dem Drucke nicht missverständlicher Aeußerungen Wilsons so geschehen war, ist an sich richtig. Der Parlamentarismus ist in Deutschland nicht erst durch die Verfassung von Weimar eingeführt worden. Aber ebenso richtig ist, daß diese Reform im November 1918 dem deutschen Volke nicht mehr genügte.
 Wie kam es nun zur Novemberrevolution?
 Seit der Marneschlacht standen sich im Westen die Heere der Deutschen und der Entente im Stellungskrieg gegenüber. Die deutschen Heere hielten aus, trotzdem Deutschland wegen des Boykotts der Entente an Nahrungsmitteln und Rohstoffen bittere Not litt und auf unzureichenden Ersatz angewiesen war. In den weitesten Kreisen des deutschen Volkes herrschte das Gefühl, daß es wie August Bebel im Jahre 1913 im Haushaltsausschuß des deutschen Reichstages gesagt hatte, um Sein oder Nichtsein Deutschland ging. Die Entbehrungen waren unmenschlich. Wenn Deutschland damals wirkliche Staatsmänner an seiner Spitze gehabt hätte, so hätte das Ziel ihrer Politik sein müssen, in den Ländern der Entente den Zusammenbruch der Stimmung der Massen zu fördern. In Frankreich und Italien war 1917 zeitweise die Stimmung sehr gedrückt. Es fanden dort Meuterein von einem Umfang statt, wie sie das deutsche Heer nie gekannt hat. Aber die Deutschen Reichskanzler und ihre nachgeordneten Staatssekretäre waren gegen die militärischen Halbgötter ohnmächtig, die weder die Grenzen der deutschen Kraft, noch das Ausmaß der durch den Beitritt der Vereinigten Saaten von Amerika gestärkten Kraft der Kriegsgegner richtig einschätzten. Die deutschen Militärs mit Ludendorff an der Spitze wollten Belgien dauernd unter deutscher Oberhoheit halten, im Osten das Baltenland annektieren und außerdem die Kriegskosten ersetzt haben. Deshalb wurde das „Gottesgeschenk“ der russischen Märzrevolution deutscherseits nicht ausgenützt. Hätte damals ein deutscher Reichskanzler offen und ehrlich erklärt, daß Deutschland im Osten zu einem Frieden ohne Annektionen und ohne Kontributionen bereit sei, hätte er den Einwohnern Rußlands wirklich das Recht auf Selbstbestimmung gelassen, so hätte das in Frankreich, Belgien und Italien, wo die Massen auch kriegsmüde waren, die stärkste propagandistische Wirkung haben müssen. So ging der Krieg im Westen wie im Osten weiter.
 Seit dem Ausbruch der russischen Revolution mehrten sich die Stimmen derer, die bei Fortdauer des Weltkrieges über Jahr und Tag auch eine deutsche Revolution für möglich hielten. Die Vorbedingungen für eine Revolution erfüllten sich aber erst, als die Karte des U-Boot-Krieges nicht stach. Für diesen Fall hatte Helfferich Deutschlands Sturz vorausgesagt. Und als am 8. August 1918 die deutschen Truppen von Albert durch die Engländer eine schwere Niederlage erlitten, kam der Wendepunkt. Die Tanks der Entente hatten wesentlich zu dieser Niederlage beigetragen. Durch die Anwendung des Tanks wurde im Westen zum erstenmal die Moral der deutschen Truppen aufs schwerste erschüttert. Mit der Augustniederlage war das ganze System des ewigen Wartens auf militärische Erfolge ins Wanken geraten. Jetzt wusste alle Welt, daß der preußische Militarismus seinen letzten Waffengang antreten würde.
 An der Spitze des deutschen Reiches stand damals Graf Hertling, ein hilfloser Greis. Wilhelm II. hatte seine „Handlanger“ bisher immer gewählt, ohne den Reichstag zu fragen, wozu ihn die halbabsolutistische Verfassung 1871 berechtigte. Vor Ernennung Hertlings hatte er zum erstenmal die „Gnade“ gehabt, mit den Reichstagsparteien Fühlung nehmen zu lassen. Von Kühlmann, der Staatssekretär des Auswärtigen, betrieb die Kandidatur des Grafen Hertling mit der Behauptung, daß der Kaiser die Fühlung mit dem Parlament für untauglich halten würden, wenn die Parteien Hertling ablehnen würden, in dessen Person ein Führer der Zentrumspartei berufen würde. Graf Hertling stand auf dem rechten Flügel des Zentrums. Um Bedenken der Sozialdemokratie und der Freisinnigen zu zerstreuen, wurde ihm der Schwabe Friedrich Payer als Vizekanzler in die Regierung berufen. Graf Hertling mußte schon am 9. Juli 1918 den Schmerz erleben, daß die Oberste Heeresleitung Herrn von Kühlmann stürzte, weil er im Reichstag wahrheitsgemäß gesagt hatte, daß militärische Entscheidungen allein den Krieg nicht mehr beenden würden. Das hatte ihn übrigens vorher die Oberste Heeresleitung selbst als geheime Information wissen lassen. Im September sah endlich jedermann ein, dass die „Fünfminutenbrenner“ auf dem Kanzlerstuhle nicht mehr länger zu halten war. Prinz Max von Baden zog als letzter Kanzler des Kaisers in die Wilhelmstraße ein.
 Der Prinz war militärisch nicht belastet. Im Kriege war er hauptsächlich in der Gefangenenfürsorge tätig gewesen. Er war unzweifelhaft guten Willens. Aber selbst wenn er mehr Kraft besessen hätte als ihm eigen war, wäre es für den Abschluß eines Verständigungsfriedens, wie ihn die Sozialdemokratie immer verlangt hatte, zu spät gewesen. Prinz Max glaubte noch, als er das Amt übernahm, an die Möglichkeit einer moralischen Offensive für einen halbwegs günstigen Frieden und an die Möglichkeit einer Fortsetzung des Krieges im Falle der Verweigerung eines solche. Er war zur Annahme des Kanzleramtes nur bereit, wenn die Sozialdemokratie Parlamentarier für die Reichsregierung zur Verfügung stellte. Vor seiner Berufung hat er Ebert diese Bedingung gestellt.
 Die Reichstagsfraktion und der Parteiausschuß der deutschen Sozialdemokratie hatten am 23. September 1918 in einer gemeinsamen Sitzung im Reichstagsgebäude in getrennter Abstimmung mit 55 gegen 10 bzw. 25 gegen 11 Stimmen grundsätzlich beschlossen, den Eintritt in eine etwa neu zu bildende Reichsregierung unter einer Reihe formulierter Bedingungen zu billigen.

 Diese betrafen vor allem: Uneingeschränktes Bekenntnis zur Friedensresolution vom 19. Juli 1917, Erklärung der Bereitschaft zum Eintritt in einen Völkerbund, der für alle Streitigkeiten zuständig sein und auf der allgemeinen Abrüstung beruhen sollte, vollkommen einwandfreie Erklärung über die Wiederherstellung Belgiens und Verständigung über dessen Entschädigung, das gleich für Serbien und Montenegro, Erklärung, daß die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Bukarest ein Friedenshindernis für den allgemeinen Friedenschluß sein dürften, sofortige Einführung der Zivilverwaltung in allen besetzten Gebieten. Freigabe der besetzten Länder bei Friedensschluß sein dürften, sofortige Einführung der Zivilverwaltung in allen besetzten Gebieten, Freigabe der besetzten Länder bei Friedensschluß, Autonomie für Elsaß-Lothringen, allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für alle deutschen Bundesstaaten, Auflösung des Preußischen Langtags, wenn das Herrenhaus der Wahlrechtsänderung nicht unverzüglich zustimmen sollte, Einheitlichkeit der Reichsleitung, Ausschaltung unverantwortlichen Nebenregierungen, Einführung der parlamentarischen Regierung im Reiche, Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten (Aufhebung der Zensur, der Versammlungsbeschränkung usw.)

 Dem Beschlusse war eine Debatte vorausgegangen, in der das Mißtrauen gegen die Durchsetzung dieser Forderungen stark zum Ausdruck kam, denn Michaelis und Graf Hertling, die beiden Vorgänger des Prinzen Max, hatten ein hinterhältiges Spiel betrieben. Eine von Beims, Löbe und Landsberg gestellter Antrag: „Die vom Vorstand in Aussicht genommenen Bedingungen genügen der Fraktion nicht für eine Beteiligung der Sozialdemokratie an der Regierung“ war durch die Beschlußfassung gegenstandslos geworden. Wenn schließlich trotz schärfster kritischer Einstellung die grundsätzliche Bereitwilligkeit zum Eintritt in die Regierung mit so großer Mehrheit beschlossen wurde, so war dafür weniger die Notwendigkeit der Mitwirkung der Partei bei der Demokratisierung des Reichs und der Bundesstaaten maßgebend, als die Meinung, daß ohne Eintritt der Partei in die Regierung nicht die notwendige Vorbereitungsarbeit zur Herbeiführung eines baldigen Friedens gesichert wäre.
 Vor der Abstimmung hatte Ebert in der ihm eigenen klaren Weise nochmals das ganze Problem aufgerollt und auf die große Verantwortung aller Beteiligten hingewiesen.

 Er sagte, daß es keine Genossen gäbe, die den Eintritt in die Regierung nicht erwarten könnten: „Sie dürfen niemanden von uns für eine solchen Esel halten, daß er nicht sagt: Ich danke meinem Schöpfer, wenn dieser Kelch an mir vorübergeht. Aber das sind persönliche Auffassungen, die nicht in Betracht kommen, wenn das Interesse der Partei, der Arbeiterklasse und des Landes auf dem Spiel steht.“

 Auch ich gehörte zu den Anhängern des Vorschlags des Vorstandes. Ich war, von Ebert zurückgerufen, erst am Abend des 22. September aus Bayern nach Berlin zurückgekehrt und hatte an den Vorbereitungen nicht teilgenommen. Was ich aber gerade in Bayern über die Kriegsmüdigkeit aller Kreise der Bevölkerung erfahren hatte, zeigte mir, daß Deutschland schleunigst Frieden brauchte.
 Vom 23. September bis Anfang Oktober hatte sich die Lage Deutschlands weiter so verschlechtert, daß Scheidemann, der in der Sitzung vom 23. September als Referent unter der Voraussetzung der Bewilligung unserer Bedingungen für den Eintritt in die Regierung gesprochen hatte, nun die schwersten Bedenken hatte und deshalb zunächst persönlich den Eintritt in die Regierung ablehnte. Ebert vertrat die Notwendigkeit des Eintritts Scheidemanns aber so überzeugend, daß dieser schließlich zustimmte. Die Regierung wurde sodann aus den drei Parteien gebildet, die später die Koalition von Weimar eingingen. An die Spitze des vom Reichsamt des Innern abgezweigten Reichsarbeitsamtes trat Gustav Bauer, der bis dahin neben Karl Legien Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands gewesen war. Das Reichsamt des Innern übernahm der Kölner Zentrumsführer Karl Trimborn, der als echter Rheinländer die Gabe hatte, auch in der schlimmsten Zeit den Humor nicht ganz zu verlieren. Neben Scheidemann wurden Erzberger und Gröber vom Zentrum Staatssekretäre ohne Portefeuille. Am 14. Oktober wurde noch Conrad Haußmann als solcher bestellt. Die Freisinnigen waren bis dahin nur durch Herrn von Payer in der Reichsregierung vertreten.
 So war denn der Eintritt der Sozialdemokratie in die Reichsregierung Tatsache geworden. Mir erschien er unerläßlich, weil auf Wilsons Erklärung die Probe gemacht werden mußte. Wie sollte denn ohne Beteiligung der Sozialdemokratie in Deutschland überhaupt eine parlamentarische Regierung gebildet werden? Gewiß fiel und diese Entscheidung schwer. Es war ein gewagtes Spiel. Manch einer fürchtete, wie Otto Wels damals sagte, daß die Sozialdemokratie vielleicht mit in die Konkursmasse des Kaiserreichs gezogen werden könnte.
 Immerhin ist fraglich, ob die Mehrheit des sozialdemokratischen Parteivorstandes, des Parteiausschusses und Zustimmung zum Eintritt in das Kabinett de der Reichstagsfraktion ihre Zustimmung zum Eintritt in das Kabinett des Prinzen Max gegeben hätten, wenn sie gewußt hätten, wie hoffnungslos die militärische Lage Deutschlands Ende September 1918 bereits war. Die Oberste Heeresleitung gab dem Prinzen Max keine Zeit mehr, um eine Friedensoffensive vorzubereiten, sondern sie verlangte am 1. Oktober sofort nach Bildung einer neuen Regierung die Uebersendung eines Waffenstillstandsangebots. Die Oberste Heeresleitung fürchtete damals im Westen einen Durchbruch und als dessen Folge die Aufrollung der ganzen Front Wenn es zunächst dazu auch nicht kam, so war doch die völlige militärische Niederlage nur noch eine Frage der Zeit. Dazu kam der Abfall der Verbündeten Deutschlands, der am 26. September 1918 durch die Friedensforderung Bulgariens eingeleitet wurde. Ich erinnere mich genau, wie im Reichshaushaltausschuß des Reichtags Graf Westarp am Vormittag für die Konservativen noch den starken Mann markiert, aber am Nachmittag seien wesentlichen Teil seiner Courage eingebüßt hatte, nachdem die Parteiführer über die militärische Lage nach dem Abfall Bulgariens informiert worden waren. Nach dem weiteren Abfall der Türkei und Oesterreich-Ungarns hatte die Entente den Sieg sicher in der Tasche. An der Fortführung des Kampfes, auch nur bis zum Jahresende, konnten nur Wahnsinnige denken.
 Wer zu behaupten wagt, daß die Flugblätter des Spartakusbundes den Krieg entschieden hätten, macht sich ebenso lächerlich wie derjenige, der glaubt, daß die deutsche Revolution mit dem Gelde der Bolschewisten gemacht worden sei, für das Emil Barth Revolver kaufte und Flugblätter drucken ließ. Uebrigens würde das letztere, wenn es wahr wäre, schwere Schuld auf die Oberste Heeresleitung wälzen, denn mit Genehmigung Ludendorffs sind Lenin, Sinowjew und andere Bolschewisten 1917 im plombierten Wagen durch Deutschland gefahren, damit sie beim „Weitertreiben“ der russischen Revolution dabei sein konnten.
 Wir Mehrheitssozialdemokraten hatten vor der Revolution keine Beziehungen zur Russischen Botschaft. Wir haben Herrn Joffe und sein Personal stets richtig eingeschätzt. Als eine Beihilfe der Russischen Botschaft bei der Herstellung und Vorbereitung illegaler Flugblätter vermutet wurde, ohne daß der Beweis angetreten werden konnte, machte Scheidmann den Vorschlag, einmal eine Kurierkiste ordentlich zu stürzen. Das wurde am 4. November 1918 auf dem Bahnhof Friedrichstraße probiert. Die Kiste platzte und prompt kam in deutscher Sprache gedruckte illegale Literatur zum Vorschein, Wie das nach dem geltenden Völkerrecht der Brauch ist, wurden Herrn Joffe und seinem Personal die Pässe zugestellt. Am 6. November 1918 reiste das Personal der Botschaft nach Moskau ab, nachdem Herr Joffe noch am Abend des 5. November dem juristischen Beistand der Russischen Botschaft, dem Rechtsanwalt Oskar Cohn, Geld „zur Förderung der Revolution“ übergeben hatte. Oskar Cohn nahm das russische Regierungsgeld ruhig an, weil es nach seiner Auffassung das Geld einer gleich der Unabhängigen Sozialdemokratie auf der Zimmerwalder Konferenz vertreten gewesenen Bruderpartei war! Er hatte auch keine Bedenken, wegen des Zweckes: den Gedanken der Revolution in Deutschland zu verbreiten.
 Festgestellt muß werden, daß Oskar Cohn sich mit der Annahme dieses Geldes in Gegensatz zur der Haltung der Unabhängigen Sozialdemokratie gesetzt hatte, die nach einer am 10. November 1918 veröffentlichten Erklärung ihres Parteivorstandes schon Monate vorher beschlossen, hatte, Gelder, die aus russischen Quellen herrühren könnten. zurückzuweisen. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß aus fremden Staaten stammende Geldmittel nicht in den Dienst der Parteipropaganda gestellt werden wollten. Daß das russische Geld nicht Parteigeld, sondern Regierungsgeld war, konnte nicht zweifelhaft sein.
 Wir Führer der Mehrheitssozialdemokratie haben die Kreise stets mit allen Mitteln bekämpft, die unter völliger Verkennung der wirtschaftlichen Existenzmöglichkeiten Deutschlands den Bolschewismus nach Deutschland verpflanzen wollten. Daraus entstand die Legende, daß wir bis in die Novembertage hinein überhaupt jeder revolutionären Bewegung feindlich gesinnt gewesen seien. Wir wußten allerdings, daß Revolutionen nicht gemacht werden. Wir hatten das Wort Ferdinand Lassalles nicht vergessen

 „Eine Revolution machen wollen, ist eine Torheit unreifer Menschen, die von den Gesetzen der Geschichte keine Ahnung haben.“

 Das galt ganz besonders für die Novemberrevolution, die sich nicht aus den gesellschaftlichen Zuständen normal entwickelte, sondern ein Kriegskind war. Vom Oktober 1918 ab war sicher, daß der Ausbruch der Revolution kam. Fraglich war nur, wo zuerst und an welchem Tage die Gewalt des Krieges in die Gewalt der Revolution umschlug. Der Sozialdemokratische Parteivorstand hatte seit dem Januarstreik von 1918 eine enge Fühlung mit Vertrauensleuten der Partei in den Berliner Großbetrieben hergestellt. Er war infolgedessen über die wirkliche Stimmung unter den Berliner Arbeitern genau unterrichtet.
 Und wie in Berlin, so draußen. Für den 12. und 13. Oktober 1918 wurde ich von dem Landesvorstand der bayerischen Sozialdemokratie nach München gerufen, um an Stelle des in der Schweiz erkrankten Genossen Adolf Müller auf dem 14. Parteitag der bayerischen Sozialdemokratie das Referat über „Reichs- und Auslandspolitik“ zu halten. Ich übernahm diesen Auftrag um so lieber, als ich bereits im September Gelegenheit hatte, in einem abgelegenen oberbayerischen Dorfe die Stimmung einer reinen Bauernbevölkerung kennenzulernen. In dieses Dorf war während des ganzen Krieges kein Spartakusflugblatt gekommen. Dort, an der bayerischen Königstraße, wird heute noch das Andenken Ludwigs II. fast heilig gehalten. Und doch sagten im fünften Kriegsjahr dort die Bauern, daß sie den Krieg „gar“ hätten. Der bayerische Parteitag bewies, daß nicht nur die Arbeiter den Tag der Abrechnung mit dem herrschenden System herbeisehnten, sondern daß auch das bayerische Bürgertum, vom Geist der Zeit erfaßt, ganz revolutionär redete. Der Nürnberger Delegierte Ernst Schneppenhorst sagte damals öffentlich u. a.:

 „Ich habe kürzlich erst eine Rede eines Bürgerlichen gehört, der meinte, der Haushaltungsvorstand der Familie Lehmann muß verschwinden. Wen er darunter gemeint hat, darüber war sich keiner der Hörer im Unklaren. Wir sind ja grundsätzlich für die Beseitigung der Monarchie, und dieser alte Programmpunkt muß jetzt in den Vorgrund treten. Nicht nur Tirpitz, sondern in der Hauptsache die Hohenzollern, die Wittelsbacher waren mit die Kriegsverlängerer, waren die Verbrecher, die Millionen von Toten auf dem Gewissen haben.“

 An demselben 13. Oktober sagte Dr. Max Süßheim – Nürnberg auf dem bayerischen Parteitag:

 „Die Forderung des Rücktritts des deutschen Kaisers und des deutschen Kronprinzen ist eine volkstümliche Forderung der weitesten Kreise der Bürgerschaft.“

 Genosse Dr. Heimerich – Nürnberg, sagte in der gleichen Debatte:

 „Ich bin dieser Tage in einem Zuge gefahren, da war ich Zeuge, wie Militär, ein Divisionskommandeur, glatt die Abdankung der Hohenzollern gefordert hat, und er hat sich mit Worten über die Leute ausgelassen, daß man staunen mußte. Und diese Stimmung geht heute durch die weitesten bürgerlichen Kreise.“

 Der Parteitag der bayerischen Sozialdemokratie nahm eine Entschließung an, in der es u. a. hieß:

 Unter Betonung unserer sozialdemokratischen Grundsätze fordert der Parteitag der Ueberführung Deutschlands in einen Volksstaat mit vollkommener Selbstbestimmung und –verwaltung des Volkes in Reich, Staat und Gemeinde.“

 Das seit der Gründung der Sozialdemokratischen Partei volkstümliche Wort „Volksstaat“ – so hieß in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das Leipziger Blatt Wilhelm Liebknechts und August Bebels – war absichtlich als deutsches Wort für das Wort Republik gewählt worden. Wie geredet wurde, so schrieb die Presse.
 Die Militärdiktatur der Generalkommandos bestand zwar in der zweiten Oktoberhälfte noch. Aber die Presse setzte sich immer mehr über die Zensurverbote hinweg, und die Herren mit dem breiten roten Generalstreifen nahmen das einfach hin, weil sie von einem Einschreiten nur eine Verschlimmerung befürchteten. Besonders deutlich wurde das zuerst in Nürnberg. Hier führte Dr. Adolf Braun, der Chefredakteur der „Fränkischen Tagespost“, im vollen Einverständnis mit dem Nürnberger Parteiinstanzen bereits vom 10. Oktober ab einen schneidigen Kampf für die schleunige Herbeiführung des Friedens, und weil das dazu gehörte, für die Abdankung des Kaisers. In einem Leitartikel über Wilson und Kaiser Wilhelm erinnerte er daran, wie Wilhelm II. schon am 16. August 1888 erklärt hatte:

 „Daß darüber nur eine Stimme sein kann, daß wir lieber unsere gesamten 18 Armeekorps und 24 Millionen Einwohner auf der Wahlstatt liegen lassen, als daß wir einen einzigen Stein von dem was, mein Vater und Prinz Friedrich Karl errungen haben, abtreten.“

 Das schlug ein. 1¾ Millionen Tote lagen schon auf der Wahlstatt. Das Volk wollte nicht warten, bis nach Wilhelms II. Wunsch 42 Millionen Deutsche hingeschlachtet waren. Der bayerische „Volksfreund“ denunzierte die „Fränkische Tagespost“ beim Generalkommando wegen der „Schand- und Brandartikel“ „gegen unseren Kaiser“. Aber von Könitz, der stellvertretende kommandierenden General des 3. bayerischen Armeekorps lehnte die Verhaftung der Redakteure Adolf Braun und Schneppenhorst wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung mit der Begründung ab, daß er wisse, daß die Revolution kommen würde, aber nicht wolle, daß sie zuerst in Nürnberg ausbreche. Er beschränkte sich auf das Verbot des Nachdrucks der Leitartikel der „Fränkischen Tagespost“ in seinem Befehlsbereich. Die Auflage der „Fränkischen Tagespost“ stieg dabei täglich.
 Unser Nürnberger Parteiblatt stand mit solcher klaren zeitgemäßen Sprache durchaus nicht allein da. Unser Breslauer Parteiorgan, dessen Chefredakteur damals Paul Löbe war, wurde am 16. Oktober 1918 auf drei Tage verboten, weil es nach der Feststellung des Dahinsinkens der Kaiserpracht und –macht den Satz enthielt, daß es nicht schwer fallen müsse, von dem kleinen Rest Abschied zu nehmen. Das Verbot wurde aufgehoben, weil die Breslauer Arbeiter der Großbetriebe mit der Parole: „Freigabe des Arbeiterblattes“ in den Ausstand getreten waren.
 Am 17. Oktober forderte die Magdeburger „Volksstimme“ die Abdankung der Hohenzollern. Ueber ganz Deutschland fluteten revolutionäre Wellen.
 Die Forderungen zur Erlangung eines Verständigungsfriedens verhallten zunächst ungehört. Die bayerische Regierung hatte nach der Bismarckschen Verfassung den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuß des Bundesrates. Sie war also verpflichtet, solche Anregungen zu geben. Ueber die wahre Lage Deutschlands war die bayerische Regierung unterrichtet, den der bayerische Kronprinz Rupprecht hatte aus dem Felde schon am 13. August 1918 an den Prinzen Max von Baden geschrieben, es „hat sich unsere militärische Lage so rapid verschlechtert, daß ich nicht mehr glaube, daß wir über den Winter werden aushalten können, ja es kann sein, daß bereits früher eine Katastrophe eintritt“.
 Der dem Kaiser treu ergebene Gesandte Treutler telegraphierte am 20. Oktober 1918 aus München über die Stimmung dort: „Tatsächlich wünscht überwiegende Mehrheit nur Frieden.“
 In Hessen sah es ebenso aus. Am 17. Oktober 1918 erhielt der sozialdemokratische Parteivorstand folgenden, von unserem Parteisekretär Hermann Neumann in Offenbach am Main verfassten, für die Stimmung in allen hessischen Kreisen bezeichnenden Bericht:

 „Durch Herrn Kappus, Offenbach a. M., wurde ich zu einer Unterredung mit dem Prinzen Leopold zu Isenburg gebeten. Die Unterredung fand am Mittwoch, dem 16. Oktober 1918, in der Privatwohnung des Prinzen in Darmstadt, Goethestr. 44, statt und dauerte von 6.15 Uhr bis 7.20 Uhr abends.
 Der Prinz bemerkte einleitend. Er wünsche mit mir über zwei Punkte, über die speziell hessischen Fragen und über die das Reich betreffenden Fragen zu verhandeln. Er erklärte dann, er sei kein Sozialdemokrat, aber durchaus demokratisch gesinnt. Diese demokratische Gesinnung habe er schon immer gehabt und gehöre deshalb nicht zu den Umlernern. Was die hessischen Verhältnisse angehe, so sei eine Reform der Verfassung nicht mehr aufzuhalten. Das von der Sozialdemokratie geforderte Wahlrecht werde und müsse kommen. Bei dieser Gelegenheit müsse auch eine Reform der Ersten Kammer vorgenommen werden. Die Erste Kammer sei in ihrer jetzigen Zusammensetzung durchaus senil. Ich erklärte, nicht eine Reform, sondern Beseitigung der Ersten Kammer strebten wir an. Der Prinz erwiderte, das sei ihm bekannt, aber die Beseitigung würden wir jetzt nicht erreichen. Er mache deshalb den Vorschlag, von den 16 Standesherren sechs zu beiseitigen und die verbleibenden zehn durch die Standesherren wählen zu lassen; dadurch würde Gewähr geboten, daß nur die gewählt würden, die wirklich Interesse hätten, und damit käme auch mehr Geist in die Erste Kammer. Für die sechs ausgefallenen Standesherren müßten Vertreter der Berufsstände (Handel, Gewerbe, Landwirtschaft und Arbeiterschaft) gewählt werden. Das Recht des Großherzogs, Mitglieder der Ersten Kammer auf Lebenszeit zu bestimmen, zu beiseitigen, würde jedenfalls nicht schwer fallen. Auf die direkte Frage, ob uns eine derartige Reform genügen würde, erklärte ich mich dahingehend nicht binden zu könne. Zur Zweiten Kammer übergehend, bemerkte der Prinz, daß über die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes nicht mehr zu reden sei, darüber gäbe es keine Diskussionen mehr.“

 Nach weiteren Mitteilungen über hessische Fragen fährt der Bericht fort:
„Zu den Verhältnissen im Reich übergehend, erklärte der Prinz, er habe Fühlung mit fast sämtlichen regierenden Häusern Deutschlands und stehe mit diesen in dauernder Verbindung.

 Mit der Beseitigung der Hohenzollern müssen wir rechnen. Er hält es für ausgeschlossen, daß Frieden kommt ohne diese Beseitigung. Er äußerte sich dann ausführlich über die Kriegslage und die Friedensaussichten. Dann kam er zu der Frage, wie das neue Deutschland auszusehen habe. Er bitte, folgenden Vorschlag in Erwägung zu ziehen: Errichtung eines Staatenbundes, mit dem Reichstag an der Spitze. Die Leitung des Staatenbundes müßte einem Bundeskanzler übertragen werden. Auf meine Zwischenfrage, daß dann die Macht aller regierender Häuser beseitigt sei, erklärte er: „Ja, das wäre auch nicht schlimm“, die Mehrzahl der Herren würden freiwillig zurücktreten. Wir würden bei einem derartigen Staatenbund aber die Deutsch-Oesterreicher gewinnen. Ein Gewinn, der nicht zu unterschätzen sei. Als Bundshauptstadt könnte vielleicht Frankfurt a. M. in Frage kommen. Nicht nur wegen der zentralen Lage, sondern auch wegen der dort wohnenden Juden, die man unbedingt gewinnen müsse. (!) Auf keinen Fall aber sollte man sich damit einverstanden erklären, daß vielleicht mit Rücksicht auf den Anschluß Deutsch-Oesterreichs Bayern als Mittelpunkt bestimmt würde; das wäre nichts anderes, als eine katholische Herrschaft errichten, wovor wir uns hüten müßten. Er forderte meine Ansicht über diesen Plan, ausdrücklich bemerkend, daß, wenn wir diesem zustimmen würden, er dann im Sinne dieses Planes weiter bei den maßgebenden deutschen Regierenden tätig sein würde. Es sei keine Idee von ihm, sondern sie sei bereits Gegenstand der Verhandlungen gewesen. Ich lehnte auf das Bestimmteste ab, darüber irgendwelche Erklärungen abzugeben, erklärte mich aber bereit, mit meinen Parteifreunden im Reich und in Hessen darüber zu konferieren und ihm dann einer neuen Unterredung unsere Ansicht mitzuteilen. Dem stimmte der Prinz zu und bat mich, die Sache in den nächsten Tagen zu erledigen. Er würde dann zu einer neuen Besprechung gerne zur Verfügung stehen.“

 Daß die Hohenzollern abdanken mußten, konnte man nun auf allen Gassen hören, oft zugleich mit der bangen Frage. Wird mit dem Sturz der Dynastie auch das Reich in Stücke gehen? Wer die Reichstagssitzungen vom 23. und 24. Oktober 1918 miterlebt hat, wird nie vergessen, wie in offener Sitzung der Pole Stychl, der Elsässer Ricklin, der Däne Hansen dem Reiche die Kündigung aussprachen. War das der Anfang vom Ende des deutschen Reiches? Hier verlangten deutsche Reichstagsabgeordnete im Namen ihrer Wähler das Recht zur Selbstbestimmung. Das konnte ihnen niemand wehren. Aber es war ein Gradmesser für die Erkenntnis der Ohnmacht des Reiches. Wir sahen die Gefahr völligen Reichszerfalls zum erstenmal deutlich vor Augen. Das verursachte Herzschmerzen.
 Die Sorge, daß dieser Krieg zwecklos noch weiter verlängert werden könnte, hatte in jenen Tagen die sozialdemokratischen Frauen Berlins veranlaßt, eine Deputation an den Parteivorstand zu senden. Als Clara Bohm-Schuch, Enni Stock und Wally Zepler auf unserem Büro in der Lindenstraße erschienen, um das bittere Herzeleid der Mütter, Frauen, Bräute und Schwestern der Kriegsteilnehmer beredt zu schildern, konnte ich sie beruhigen. Der Sprachgewalt eines Léon Gambetta wäre es nach viereinhalbjährigem Kriege auch nicht gelungen, den Landsturm eines allerletzten Aufgebots zum Kampfe gegen die Tankgeschwader der Entente zu begeistern.
 Am 7. Oktober 1918 hatte Walter Rathenau in der „Vossischen Zeitung“ die „Levée en masse“, „das letzte Aufgebot“ verlangt. Ludendorff, der wieder Mut gefaßt hatte, dichtete in der Sitzung des Kriegskabinetts vom 17. Oktober der Sozialdemokratie die Macht an, das Volk noch packen und hochreißen zu können: „Kann das nicht Herr Ebert tun? Es muß gelingen!“
 Die Antwort erhielt Ludendorff in dem am 18. Oktober 1918 im „Vorwärts“ veröffentlichten Aufruf des sozialdemokratischen Parteivorstandes. Die Partei wußte, daß bei einer militärischen Kapitulation dem deutschen Volke schwerste Lasten auferlegt werden würden. In dem Aufruf des Parteivorstandes hieß es u. a.:

 „Deutschland und das deutsche Volk ist in Gefahr, das Opfer der Eroberungssucht englisch-französischer Chauvinisten und Eroberungspolitiker zu werden.“

 Scharf sprach sich der Aufruf gegen die Kriegsgewinnler und gegen die chauvinistischen Demagogen der Vaterlandspartei aus, aber ebenso entschieden auch gegen die unverantwortlichen Treibereien bolschewistischer Apostel, die die Herbeiführung des Friedens und der Demokratisierung erschwerten und die Gefahr des Bürgerkrieges und des wirtschaftlichen Chaos heraufbeschworen, wodurch Not und Elend nur gesteigert und die Eroberungsgier unserer Kriegsgegner nur angereizt werden konnte.
 Darüber hinaus lag es nicht in der Macht der Sozialdemokratie, die Massen des Volkes zu neuen großen Kraftanstrengungen aufzupeitschen, weil diese einfach nicht mehr geleistet werden konnten. Die deutsche Volkskraft war fast bis zum Weißbluten vergeudet.
 Walter Rathenaus Aufruf konnte nicht mehr zünden. Er selbst sah Deutschlands Lage zu klar, um das zu erwarten. Der Aufruf löste offenen Widerspruch auch im Lager der Intellektuellen aus. Fritz von Unruh sandte aus Zürich dem Prinzen Max eine Aufzeichnung, in der er ihm auseinandersetzte, „es sei sündhaft und rückfällig, jetzt noch an eine Volkserhebung zu denken.“ Hingegen sprang am 22. Oktober Richard Dehmel in einem Aufruf „Letzte Rettung“ Rathenau bei. Ihm gab, den Massen der Frauen aus dem Herzen sprechen, am 28. Oktober Käthe Kollwitz die treffende Antwort: „Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden … es ist genug gestorben, keiner darf mehr fallen.“
 Nicht nur die sozialdemokratischen Frauen rührten sich in jenen Tagen. Bürgerliche und sozialdemokratische Frauen hielten am 4. November 1918 in Berlin in den Sophiesälen eine gemeinsame Kundgebung für die Einführung des Frauenwahlrechts ab. Marie Juchacz, Rosa Kempf, Marie Stritt, Clara Bohm-Schuch, Minna Cauer und Regina Deutsch referierten. Nach ihnen sprachen Vertreter der politischen Parteien und verschiedenen Organisationen für das Frauenwahlrecht. Nach Konrad Haenisch, Paul Hirsch, Heinrich Schulz und dem Freisinnigen Sivkowitsch sprach ich für den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei. Meine Vorredner hatten mir alle schönen Argumente für die Notwendigkeit der Einführung des Frauenwahlrechts weggenommen, und so sagte ich einfach nach wenigen einleitenden Sätzen: „Wahrlich, es werden wenige in diesem Saale sein, die den Stieg des Frauenstimmrechts in Deutschland nicht erleben werden.“ Es wird mir unvergeßlich sein, wie Minna Cauer, die greise Vorkämpferin für die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frauen, mir nachher sagte:“ Das waren Worte der Hoffnung, aber ich weiß nicht, ob ich das auch noch erleben werde.“ Schon wenige Wochen später wurde das Frauenwahlrecht in Deutschland durch die Volksbeauftragten eingeführt.
 Die „Unabhängige Sozialdemokratie“ hatte bereits am 5. Oktober in ihrer Presse und gleichzeitig im Flugblattform in Massen einen Aufruf verbreitet „An das werktätige Volk“, in dem es nach Aufzählungen von Forderungen, die die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten betrafen, hieß: „Unser Ziel ist die sozialistische Republik. Sie allein ermöglicht es, die Welt von den Verwüstungen des Krieges zu erlösen.“ Dieses Ziel war international aufgestellt: „Tiefe Umwälzungen gehen in allen Staaten vor sich. Die Welt erhält ein völlig anderes Antlitz.“
 Wir Mehrheitssozialdemokraten glaubten nicht an das gleichzeitige baldige Eintreten tiefer Umwälzungen in allen Saaten. Warum sollten in den Ententeländern, denen der Sieg seit dem August 1918 in greifbare Nähe gerückt war, Revolution kommen?
 In bürgerlichen Kreisen sah man diese Zeichen der nahen Umwälzung mit Besorgnis an. In Berlin fürchteten damals gerade demokratische Politiker, daß die verzweifelte Stimmung in Bayern in der Zeit der größten Not des Reiches zum Abschluß eines Separatenfriedens nach dem Vorbilde Karl von Habsburgs drängte.
 Zur Unterstützung der Regierungspolitik war die „Zentrale für Heimatdienst“ in der Potsdamer Straße 113 unter Leitung des Staatssekretärs Erzberger errichtet worden, die Richtlinien für die Friedensfrage, für die Demokratisierung des Reiches und der einzelnen Bundesstaaten für die Erhaltung der Einheit des Reiches in Form von Flugblättern herausgab. Erzberger war sozusagen Propagandaminister geworden. Aber auch diese Arbeit kam reichlich spät. In wieviel bayerische Hände mag das am 4. November gedruckte Flugblatt Richtlinien Nr. 6 „Bayern und das Reich“ gekommen sein, in dem es unter Bezugnahme auf Bayern hieß:

 „So wird jetzt durch eine heimlich, mit Hilfe von allerhand gedrucktem oder gesprochenen Agitationsmaterial getriebene Mache der Abfall vom Deutschen Reiche als unabwendlich und als nutzbringend hingestellt.“

 Es wurde dann den Bayern ihre Verbundenheit mit Deutschland an der Hand einer Fülle von Zahlen klar gemacht. Die Bayern hätten keine Kohle und fast keine künstlichen Düngemittel, für die die Norddeutschland eine Art Weltmonopol besitze, usw.: „Kein fremder Staat, auch Deutschösterreich nicht, könne ersetzen, was durch Loslösung vom Norden verloren ginge.“ Gegen das Gespenst der Donaumonarchie hatte sich in Bayern selbst bereits die München-Augsburger Allgemeine Zeitung gewandt.
 Am 31. Oktober hatten wir in der „Zentrale für Heimatdienst“ deren Beirat ich damals als Beauftragter der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion angehörte, unter Erzbergers Vorsitz eine eingehende Debatte über die kommende Staatsumwälzung. Wer sie miterlebt hat, muß zugeben, daß der heute von allen Reaktionären so sehr geschmähte Erzberger damals das Menschenmögliste tat, um die Debatte über die Kaiserfrage einzudämmen. Er suchte mit allen Mitteln zu beweisen, daß Wilson auch in seiner Note vom 20. Oktober 1918 nicht die Abdankung Wilhelms II. verlangt hätte.
 Erzberger suchte für die Richtlinien zur Kaiserfrage eine einstimmige Billigung des Beirats herbeizuführen. Das gelang ihm aber nicht. Ich widersprach ihm nicht nur, weil ich andere Folgerungen aus den Noten Wilsons zog, sondern auch, weil meiner festen Ueberzeugung nach durch die Herausgabe solcher Richtlinien über die Kaiserfrage irgendwelcher Eindruck auf die Massen des Volkes nicht mehr zu erzielen war. Um die Einmütigkeit herzustellen, wollte mich Erzberger dazu überreden zuzugestehen, daß die Kaiserfrage zurzeit noch nicht die Abdankung des Kaisers erheische. Er ließ deutlich durchblicken, daß es aber bald soweit kommen könne. Aber ich konnte ihm auch diesen Gefallen nicht tun. Die Richtlinien gingen dann am 31. Oktober mit folgender Einschränkung heraus:

 „Die folgenden Richtlinien sind nicht dazu bestimmt, den Meinungsstreit über die Kaiserfrage zu verbreitern und zu vertiefen, sondern sie sollen nur Gedanken zur Abwehr und Zurückweisung für diejenigen enthalten, die bei einer öffentlichen oder privaten Erörterung für das Verbleiben des Kaisers pflicht- und überzeugsgemäß eintreten wollen.“

 Damit war gesagt, daß sie eigentlich nur noch für den Hausgebrauch bis in die Knochen konservativer Familien bestimmt waren. Erzberger fürchtete aber auch, daß nach der Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen, ein Knabe im Alter von zwölf Jahren, an die Spitze des Reiches gestellt werden würde. Die Regentschaft würde ungeheure Schwierigkeiten überwinden müssen, zumal für Preußen der nächste männliche Anverwandte, Prinz Eitel Friedrich, als Regent in Betracht komme. Damals war noch nicht bekannt, daß Wilhelm II. sich einige Tage vorher von seinen sämtlichen Söhnen – und seine sieben Söhne haben ja alle den Krieg überstanden – hatte feierlich versprechen lassen, daß keiner im Falle seiner Absetzung die Regentschaft übernehmen würde. Sozusagen also ein Generalstreik der Hohenzollernprinzen im Falle der Absetzung. Freilich hoffte damals Erzberger noch, daß Wilhelm II. freiwillig gehen würde:

 „Glaubt der Kaiser, die Bürde der Krone nicht mehr tragen zu können, so wird sich die Nation in Ehrfurcht seinen Entschlusse beugen: sie darf aber nicht von sich aus dem Kaiser die Treue versagen.“

 Wilhelm II. dachte damals noch nicht an Abdankung, aber immerhin war ihm Berlin zu unsicher geworden. Er floh, ohne von seinem Vetter, dem Prinzen Max, Abschied zu nehmen am 29. Oktober – angeblich aus Furcht vor Grippe – ins Große Hauptquartier. Der Reichskanzler suchte vergebens unter den deutschen Fürsten und Prinzen einen, der Wilhelm II. zur Abdankung überreden konnte. Der Großherzog von Hessen lehnte dankend ab. Wilhelms Schwager, Prinz Friedrich Karl von Hessen, war erst bereits, sagte aber dann ab, als ein angeforderter Extrazug schon bereit stand. Als am 8. November 1918 schon halb Deutschland von den Wogen der Revolution erfaßt war, verweigerte Wilhelm die Abdankung immer noch. Er wollte an der Spitze des Heeres die Ordnung in der Heimat wiederherstellen. Aber da versagten die Truppen den Dienst. Zum Mord von Vater und Mutter ließen sie sich von Wilhelm II. nicht mehr kommandieren. Das hatte ihnen der Kaiser einst im Frieden zugemutet, und sie hatten schweigen müssen. Eine bis dahin für zuverlässig gehaltene Frontdivision, die auf Befahl des Kaisers den Rücken des Großen Hauptquartiers gegen die Aufständischen von Köln bis Aachen decken sollte, kündigte den Offizieren den Gehorsam und setzte sich gegen deren ausdrücklichen Befehl nach der Heimat zu in Bewegung. Nun erst ging Wilhelm II über die Grenze nach Holland.
 Sein Verhalten hat vom 29. Oktober ab einer radikalen Lösung geradezu den Weg gewiesen. Die „Zentrale für Heimatdienst“ brauchte sich nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, ob wir Deutsche Anlaß haben, „republikanischer zu sein als der Republikaner Wilson“. Das Auswärtige Amt konnte die Versuche einstellen, darüber zur völligen Klarheit zu kommen, ob Wilson neben gewissen Sicherungen auch die Abdankung des Kaisers verlangt hatte.
 Die Revolution war unvermeidbar geworden. Prinz Max sah das jetzt ein. Er erzählt in seinen Erinnerungen, wie er am 20. Oktober nach der Drohung mit seiner Demission zu dem Generaladjutanten von Plessen gesagt habe: „Wenn ich gehe, dann fällt das Kabinett auseinander, und dann kommt die Revolution.“ Die Revolution war aber schon da. Ehe Prinz Max von Baden zurücktrat, hatte sie in Kiel bereits begonnen.
 Soviel zur Einleitung dieses Buches, das keine Geschichte der deutschen Revolution von 1918 werden, sondern für den späteren Geschichtsforscher eine Quelle sein soll. Ich will mich bemühen, den Ideen- und Stimmungsgehalt jener schweren Zeit so objektiv festzuhalten, wie das einer kann, dem es vergönnt war, den gewaltigen Umsturz des deutschen Verfassungslebens nicht nur aus nächster Nähe zu beobachten, sondern auch an dem werdenden Neuen ordnend mitzuwirken.

 

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