Heinrich Mann
Wir sollen feiern, und die Stunde ist kritisch. Wir sollen die Verfassung feiern und wissen doch nicht: Was ist inzwischen geworden aus der Verfassung? Was wird aus ihr noch werden? Das Jahr 1919 ist lange her.
Suchen wir uns zur vergegenwärtigen, wenn anders wir es heute noch können: was sollte die Verfassung einst sein? Es sind doch Ideale hineingearbeitet worden im Jahre 1919. Die Revolution, ob sie nun ganz freiwillig kam oder nicht, hatte in jedem Fall die Köpfe freier gemacht. Vieles schien auf einmal möglich und naheliegend, was nicht nur die Herrschen, sondern auch die große Mehrheit niemals sehr dringlich gefunden hatten. So die Vereinheitlichung Deutschlands, ohne übertriebene Rücksichten auf Eigenarten und Sonderrechte. So die Freiheit im Inneren, was nur heißen kann: es sollte dauernd im Sinne der meisten regiert werden, nie wieder zum Vorteil und Vorrecht weniger.
Im Sinne der meisten, also friedlich, ohne Kriegsgesinnung. Im Sinne der meisten, also ausgleichend, auch den Besitz. Konsequenter Sozialismus war in Weimar nicht die treibende Kraft, aber soziale Gesinnung hat doch mitgewirkt. Man wollte keine gefährlichen Kapitalanhäufungen. „Freie Bahn dem Tüchtigen“, und nicht auf seinem Wege jene absichtlich Hindernisse, wie Vorrechte oder der alles aufsaugende Reichtum. Das war der Geist der Weimarer Verfassung. Darum feiern wir sie. Keineswegs war es der Geist einer republikanischen Plutokratie.
Der Geist der Verfassung ist inzwischen verkannt, verleugnet, entstellt, er ist ihr fast ausgetrieben worden. Der kriegstolle Nationalismus treibt es wieder wie je und reicht schon wieder bis an den Sitz der Macht, die jetzt doch dem Volke entstammt und ihm Rechenschaft schuldet. Das Kapital ist erst jetzt wahrhaft überwältigend geworden. Seine Herrschsucht vergreift sich erst jetzt ganz offen an jedem einzelnen von uns, wie am Staate selbst. Wir feiern darum erst recht die Verfassung, die dies alles nicht mehr kennen wollte. Sie hat es noch nicht gekonnt. Aber sie soll es einst können …
1919 schrieben wir in die Verfassung etwas über Vergesellschaftung privater wirtschaftlicher Unternehmungen, über Beteiligung des Reiches an diesen Unternehmungen, über Beteiligung des Reiches an diesen Unternehmungen, und daß allermindestens die Bodenschätze unter die Aufsicht des Staates kommen sollen. Steht das 1923 nicht mehr in der Verfassung? Ach! ein Artikel der Verfassung verlangt auch, der selbstständige Mittelstand sei gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen. Ich merke nichts. Es wäre kein Wunder, wenn alle um ihr verfassungsmäßiges Recht Betrogenen sich endlich zusammenfänden, um es sich zu holen …
Die ernstesten Republikaner, die ersten, die es waren hierzulande, sich enttäuscht von dieser Republik – das muß eingestanden werden –, und es wäre kein Glück für diese Republik, wenn sie gerade diese Freunde verlöre. Von Zeit zu Zeit wird versichert, die Verfassung und die staatliche Ordnung werden unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Nun, es kommt darauf an, was jemand unter staatlicher Ordnung versteht … Hier aber wollen wir doch von dem Brennendsten sprechen und wollen das Wort wagen, daß schlimmsten Endes der Zerfall des Reiches droht, daß die Klassen, deren Gier und Selbstsucht es dahin gebracht haben, diesen Zerfall, wenn er wirklich käme, nicht mehr aufhalten könnten.
Aus „Wir feiern die Verfassung, 1923
Der Sonntag, Berlin, Nr. 34/68, S. 8. 25.08.1968
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