Reinhard Rürup - 9. November 1918 - Realität und Mythos

Die Gründung der deutschen Republik verdient mehr öffentliches Bewußtsein

 Am 9. November fiel in Berlin die Entscheidung gegen Wilhelm II. und die Hohenzollern in Preußen und im Reich. Schon am7. November war in München erfolgreich die „demokratische und soziale“ Republik Bayern proklamiert worden. Am 9. November und an den folgenden Tagen fielen die Kronen aller regierenden Häuser in Deutschland. Die Gründung der Republik war Teil einer Revolution, die aus Kriegsmüdigkeit, Erschöpfung und dem überraschenden Eingeständnis der militärischen Niederlage entstand.
 Mit der immer stärker werdenden Forderungen nach Abdankung des Kaisers verband sich zunächst einmal die Hoffnung, dadurch den Krieg schneller beenden und die Friedensbedingungen günstig beeinflussen zu können. Darüber hinaus aber galt Wilhelm II. als der Hauptrepräsentant jener militaristischen, imperialistischen und antidemokratischen Politik, die Deutschland in den Krieg und schließlich auch in die Niederlage geführt hatte. Die Abdankungsforderung bedeutete deshalb zugleich die Forderung nach einer grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse.

Abdankung des Kaisers hielt Revolution nicht auf

 Die revolutionäre Bewegung, die von den Matrosen ausging und rasch große Teile der Arbeiter und die Soldaten des Heimatheeres erfaßte, wurde innerhalb weniger Tage so stark, daß der Reichkanzler Prinz Max von Baden am 9. November zu der Überzeugung kam, daß eine Revolution nur noch durch die Abdankung des Kaisers verhindert werden könne. Um den politischen Umsturz und die Ausrufung der Republik zu vermeiden, verkündete der Reichskanzler deshalb eigenmächtig den Thronverzicht des Kaisers und des (besonders unbeliebten) Kronprinzen, während im Großen Hauptquartier noch um diese Entscheidung gerungen wurde. Mittags gegen 12 Uhr wurde der Verzicht durch das W. T. B, damals die führende Presseagentur in Berlin, bekanntgegeben. Die Mitteilung über die Abdankung des Kaisers wirkte keineswegs beruhigend, sondern wurde als Ausdruck der Unwiderstehlichkeit der revolutionären Volksmassen verstanden. So wurde der 9. November zum Tag der Revolution, des erfolgreichen Staatsumsturzes.
 In nahezu jedem Schulbuch findet sich die Mitteilung, daß die „Ausrufung“ am 9. November zweimal erfolgt ist: Gegen 14 Uhr proklamierte der Mehrheitssozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus die „deutsche Republik“, gegen 16 Uhr rief der Linkssozialist und Führer des Spartakusbundes Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Schlosses die „freie sozialistische Republik“ aus. Die Entscheidung darüber, welchen Inhalt die Republik haben werde, fiel nicht am 9. November, sondern in den revolutionären Auseinandersetzungen der nächsten Wochen und Monate.
 Liebknecht, der zunächst vor dem Schloß und dann noch einmal auf dem Balkon sprach, begann mit folgenden Sätzen: "Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik.“ Im weiteren sprach er den Presseberichten zufolge davon, daß die Aufgabe noch nicht getan sei, sondern jetzt erst beginne. „Wir müssen alle Kräfte anspannen“, fuhr er fort „um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen“.

Durch die Sozialdemokratie ging ein tiefer Riß

 Unausgesprochen blieb freilich, daß Liebknecht, der hier nachdrücklich dazu aufforderte, daß „alle zusammenstehen, um das Ideal der Republik zu verwirklichen“, am gleichen Tag nicht nur den ihm angebotenen Eintritt in eine provisorische Regierung ablehnte, sonder auch prinzipiell jede Zusammenarbeit mit den nach seiner Auffassung durch ihre Kriegsziele diskreditierten Mehrheitssozialdemokraten verweigerte. Schon am Tag der Proklamation der Republik wurde damit deutlich, wie tief der Riß war, der Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige Sozialdemokraten trennte.
 Von der Rede, die Philipp Scheidemann, damals Mitvorsitzender der mehrheitssozialdemokratischen Partei, gehalten hat, liegen zwei vollständig voneinander abweichende Versionen vor. In der Literatur und auch im öffentlichen Bewußtsein, dominiert bis heute die Fassung, die Scheidemann 1928 im zweiten Band seiner „Memoiren eines Sozialdemokraten“ veröffentlich hat. Bereits vor 25 Jahren wurde jedoch schon darauf verweisen, daß dieser Text keineswegs authentisch ist, sondern als „eine selbstverfasste Fälschung seiner Rede“ bezeichnet werden muß. Sieht man genauer hin, so besteht kein Zweifel, daß er in seinen Memoiren eine hochstilisierte Darstellung der Vorgänge wählte, um als Gestalter der deutschen Geschichte und Retter des deutschen Volkes erscheinen zu können.
 Die Entscheidung für einen neuen Text in den Memoiren führte zu weiteren Nachbildungen und Verfälschungen. Noch heute ist in Dokumentarfilmen oder Hörfunksendungen ein Tondokument zu hören, auf dem Scheidemanns Stimme und eine Kurzfassung seiner Rede bei der Ausrufung der Republik zu vernehmen sind: Es handelt sich um eine Aufzeichnung aus der Spätzeit der Weimarer Republik, der der Text von 1928 zugrunde liegt. Die Verfälschungen betreffen sogar den Ort der Handlung: Scheidemann hat, wie gut belegt ist, vom Balkon des Lesesaals im Reichstag (links vom Haupteingang, im ersten Obergeschoß) aus gesprochen. In seinen Memoiren berichtet er jedoch, daß er vom Fenster aus gesprochen habe, und so werden auch immer wieder Fotos abgedruckt, die ihn in einem Fenster, angeblich bei der Rede vom 9. November, zeigen.
 Sehen wir uns nun beide Texte etwas genauer an, so können wir wichtige Einblicke sowohl in die Situation am 9. November 1918 als auch in die Vorstellungen von der Revolution gewinnen, wie sie sich ein Jahrzehnt später ausgebildet hatten – und das eine hatte mit dem anderen nichts mehr viel zu tun. Der stenographische, also authentische Text beginnt mit folgenden kurzen Sätzen: „Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das Alte, Morsch ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik! Das waren, in knappster Formulierung, die Aussagen, die in diesem Augeblick nötig waren und die die Zehntausende, die sich auf dem Königsplatz vor dem Reichstag versammelt hatten, hören wollten.
 In einem zweiten Block folgte die Mitteilung, daß Ebert das Reichskanzleramt übernommen habe. Der Aussage über den Zusammenbruch des Alten und den Sieg des Neuen folgte also die Information, daß die neue Ordnung sich bereits etabliere. Die Rede ist ein eindrucksvolles Dokument der rhetorischen Begabung Scheidemanns. Indem sie den Sieg des Volkes feierte und die Republik proklamierte, setzte sich die Führung der Mehrheitssozialdemokratie an die Spitze der von ihr nicht initiierten und eher abgelehnten revolutionären Bewegung. Die Revolution wurde adoptiert, zugleich aber wurde der Eindruck vermittelt, daß sie inzwischen ihr Ziel erreicht habe und deshalb beendet werden müsse.

Antikommunismus führte Scheidemann die Feder

 1928 sah das ganz anders aus. Scheidemann schilderte jetzt, daß er von Arbeitern und Soldaten dringend aufgefordert worden sei, zu den Massen zu sprechen, da Liebknecht bereits vom Schloßbalkon aus rede und die „Sowjetrepublik“ ausrufen wolle. Es folgen die Sätze: „Nun sah ich die Situation klar vor Augen. Ich kannte seine Forderung: ,Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!’ - Deutschland also eine russische Provinz, eine Sowjetfiliale?? Nein! Tausendmal nein! – Kein Zweifel: Wer jetzt die Massen vom Schloß her ,bolschewistisch’ oder vom Reichstag zum Schloß hin ,sozialdemokratisch’ in Bewegung bringt, der hat gesiegt! … Schon stand ich am Fenster …“
 Es ist offensichtlich, daß die Darstellung das Zeil verfolgte, die Rolle Scheidemanns historisch zu überhöhen. Entsprechend werden Vorgänge zurechtgerückt: Liebknecht sprach erst wesentlich später, er war kein „Bolschwist“, sprach nicht von der „Sowjetrepublik und rief auch keine „Räterepublik“ aus. Es ging am 9. November mit Sicherheit nicht um „Sowjetrepublik oder Demokratie“ und schon gar nicht um die Errichtung einer „russischen Provinz“. Ausschlaggebend für die Darstellung war, daß die Sozialdemokratie sich seit langem nicht mehr zur Revolution bekannte, sondern in erster Linie das Verdienst für sich in Anspruch nahm, einen Sieg des Kommunismus verhindert zu haben.

Unter Druck der „Dolchstoß-Legende“

 Der Redetext, der Scheidemann nun 1928 neu verfasste, begann nicht mehr mit dem Sieg des Volkes, sondern mit zwei langen Abschnitten, die dem Ende des Krieges, den großen Opfern an Gut und Blut und vor allem den für verantwortlichen, den wirklichen „Volksfeinden“ gewidmet waren. Der Text reagiert in hohem Maße auf die Verbreitung der sogenannten „Dolchstoß-Legende“ und versucht die Sozialdemokratie vor dem Vorwurf zu rechtfertigen, sie sei als Mitträgerin der Revolution für die Kriegsniederlage verantwortlich. Von dem Pathos der Republik- und Demokratiegründung findet sich auf dem Hintergrund der Erfahrungen bis 1928 fast nichts mehr.
 Die Republik, die am 9. November 1918 proklamiert wurde, fand ihre eigentliche Gestalt erst in einem Gründungsprozeß, der bis zur Unterzeichnung der Verfassung am 11. August 1919 dauerte. In den ersten Wochen lag die Macht bei den revolutionären Volksbewegungen. In ihrer übergroßen Mehrheit waren sie durch die Programmatik der Sozialdemokratie geprägt. Sie wollten die Republik, eine verfassunggebende Nationalversammlung und eine parlamentarische Demokratie. In diesen Punkten waren sie erfolgreich. Sie wollten darüber hinaus jedoch auch eine durchgreifende Demokratisierung des Heeres, der Verwaltung und der Wirtschaft. In diesen Punkten blieb die revolutionäre Bewegung weitgehend erfolglos. Die steckengebliebene Revolution mündete in einer Republik, in der die wichtigsten auch weiterhin in den Händen von Republikgegnern und Demokratiefeinden waren.

Ein unverzichtbares Datum des Erinnerns

 Wenn der 9. November heute als Tag der Revolution und der Republikgründung im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik weit weniger präsent ist, als er es verdient, so hat das viele Gründe. Ein besonders wichtiger Grund ist, daß es überlagert ist durch die Erinnerung an die gegen die Juden und ihre Synagogen verübten Verbrechen am 9./10. November 1938. Die Übereinstimmung des Datums ist nicht zufällig. Da der Nationalsozialismus sich vor allem in seiner Frühphase als eine gegen die November-Revolution gerichtete Bewegung verstand, hatte es seinen Sinn, daß der Putsch-Versuch im Jahre 1923 am 9. November stattfand. Die alljährlichen Gedenkfeiern zur Erinnerung an den sogenannten „Marsch auf die Feldherrenhalle“ waren dann die Voraussetzung dafür, daß der zentral gelenkte Pogrom am 9. November 1938 stattfinden konnte.
 Trotz dieser Überlegungen und Belastungen des Datums bleibt der 9. November 1918 ein großes und unverzichtbares Datum der politischen Geschichte unseres Landes, weil es an den Tag erinnert, an dem die Menschen ihre Geschichte selbst in Hand genommen, die Fürsten gestürzt und eine demokratische Republik begründet haben. Dem steht freilich die nicht minder notwendige Mahnung des 9. November 1938 zur Seite, die uns daran erinnert, wohin es führen kann, wenn ein Projekt der demokratischen Republik scheitert. Daß wir inzwischen auch an den 9. November 1989 denken können, ermöglicht es uns, die historische Betrachtung mit einem optimistischeren Ton abzuschließen.

„Prof. Dr. Reinhard Rürup, „9. November 1918 – Realität und Mythos“, Berliner Zeitung, 9.11.1993“

 

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