VORWÄRTS 14. November 1968 SPD
50 Jahre danach
Aus einer Rede Willy Brandts zum Jahrestag der Gründung der deutschen Republik
Wenn wir heute an die Ereignisse des November 1918 zurückdenken, so sind die geistigen und moralischen Antriebskräfte der vorigen und vorvorigen Generation in uns lebendig, und dabei stehen wir doch mit beiden Beinen in unserer neuen Zeit. Ich sage dies als der Vorsitzende der traditionsreichen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die soviel Schmähungen über sich hat ergehen lassen müssen und die sich dadurch doch nicht hat mürbe machen lassen.
Ich meine, wir sollten uns heute nicht ohne eigene Meinung, nicht ohne Bereitschaft zum stetigen Überdenken der Zusammenhänge und der Notwendigkeiten, aber doch mit einem gewissen Stolz zu dem bekennen, was die Sozialdemokraten in der Weimarer Republik gewollt, versucht und geleistet haben. Dem deutschen Volk wäre viel erspart geblieben, wenn es sich den Mahnungen und den Warnungen der Sozialdemokraten damals in größerer Zahl geöffnet hätte.
Gleichzeitig gab es die zerreibenden Auseinandersetzungen um den Inhalt der neuen Ordnung. Es ist eine unerlaubte Vereinfachung, dies einfach nur als Problem des Bolschewismus auf deutschem Boden zu sehen. Der eigentliche Widerspruch wurde damals durch Rosa Luxemburg verkörpert, die man als Revolutionär und als Humanist zugleich begreifen muß. Sie, die den Spartakusbund mitbegründet hatte, aus dem die Kommunistische Partei Deutschlands an der Jahreswende 1918/19 entstand, bekannte sich leidenschaftlich zu einem Freiheitsbegriff, der im völligen Widerspruch zu dem stand, was in den folgenden fünft Jahrzehnten mit geringen Abweichungen das Phänomen des Kommunismus ausgemacht hat. Sie sagte bekanntlich: „Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden.“
Es liegt auf der Hand, daß dies eine demokratisch-sozialistische Position ist, nicht eine terroristische-kommunistische. Aber ich will auch nicht nichts überspielen. Die Last war damals, vor 50 Jahren, nicht nur deshalb so schwer, weil es keine demokratische Tradition und keine Erfahrung in der Führung eines demokratischen Staatwesens gab, sondern auch deshalb, weil der revolutionäre Utopismus und Illusionismus so viele Energien in Anspruch nahm und sie brachlegte.
Der November 1918, in dem – viel später als in anderen europäischen Ländern – der Versuch unternommen wurde, die Demokratie in Deutschland als Herrschaftsform des Volkes für das Volk zu etablieren, kann nur verstanden werden, wenn man die Entwicklung des Deutschen Reiches vor Augen hat.
Bismarck war auf seine Weise die Einigung nach außen gelungen, nicht die Einigung nach innen. Den Vorstellungen der herrschenden Kreise widersprach die sozialdemokratische Bewegung, die nicht nur das Elend der arbeitenden Menschen jener Zeit überwinden, sondern auch das gleiche Recht für alle Bürger verwirklichen wollte. Als trotz Sozialistengesetz und trotz manchen anderen Hindernissen die sozialdemokratische Bewegung immer mächtiger wurde, dam die tonangebende Strömung des Liberalismus der Herrschern und den Herrschenden zur Hilfe. Das deutsche Bürgertum, das seine Befreiung nie erreicht hatte, arrangierte sich aus furcht vor den aufstrebenden breiten Schichten des Volkes mit den feudalen und autoritären Kräften.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hatte sich in ihrer Geschichte jedoch nicht nur mit den Gegnern auseinanderzusetzen, die das Bestehende bewahren, wenn nicht zum Gestrigen zurückehren wollten. Innerhalb der sozialistischen Bewegung ging es schon lange vor dem ersten Weltkrieg auch darum, wie man das Ziel erreichen könnte. Daraus wurde mehr als eine taktische Diskussion. Es wurde daraus eine Auseinandersetzung nicht nur um den Weg, sondern auch um das Ziel. Es wurde daraus mehr als eine Probe auf die Reife zur Führung von Staat und Volk.
August Bebel bekannte sich, wie wir wissen, zum Kampf für den Sozialismus bei gleichzeitigem täglichem Ringen um die Verbesserung der Lebenslage der arbeitenden Menschen. Bebel wollte mehr: Die Demokratie sollte das Pariadasein der Arbeiter überwinden; sie sollten gleichberechtigte Bürger werden. Das Ausgeschlossensein aus dem, was man Staatsvolk nennt, die jahrzehntelange Rolle der Partei der Ausgestoßenen, das feindliche Verhalten auch der Kirchen gegenüber den sozialen Bewegungen jener Zeit mußte natürlich nicht nur das Verhältnis der Sozialdemokratie zum kaiserlichen Obrigkeitsstaat beeinflussen, sondern auch weiterwirkende Verhaltensweisen nach sich ziehen.
Als das Kaiserreich zusammenbrach, drohte der Staat in Auflösung zu geraten. Die konservativen Kräfte und Schichten konnten sich – wenn überhaupt – nur schwer an den Gedanken einer demokratischen Republik gewöhnen. Scheinbare Einsichten standen auf unsicherem Boden. Oft schien es sich nur darum zu handeln, daß man keine Möglichkeit sah, die neue Ordnung offen zu bekämpfen. Wenn man so will; zeitweise Tugend als Mangel an Gelegenheit zum Fehltritt.
In seiner Eröffnungsrede vor der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 wies Friedrich Ebert, der erste Sozialdemokrat an der Spitze eines deutschen Staates, auf die „üble Erbschaft“ hin, die unsere Vorgänger antreten mussten. „Wir waren, so sagte er, „die Konkursverwaltungen des alten Regimes. Alle Scheuern, alle Lager waren leer, alle Vorräte gingen zur Neige, der Kredit war erschüttert, die Moral tief gesunken.“
Nach blutigen Kämpfen konnte dann für einige Zeit der demokratische Staat aufgebaut werden, aber wir müssen uns eingestehen, daß die gesellschaftliche Erneuerung fast schon im Ansatz stecken blieb. Wer will guten Gewissens sagen, daß er es unter den damaligen Verhältnissen nicht nur anders, sondern auch besser gemacht haben würde? Ich habe nur das deutliche Empfinden, daß die Frage der Macht im demokratischen Staat nicht klar genug gestellt wurde und daß nicht nur die innenpolitischen Gegner, sondern vor allem die Feinde der Demokratie viel zu zögerlich und zimperlich angegangen worden sind.
Jedenfalls ist es so, daß die Demokraten in der deutschen Republik Weimar eine Minderheit geblieben sind. Die in den Nachkriegswirren und in den Bruderkämpfen der Revolution von den Demokraten bewiesene Staatstreue, ihre patriotischen Koalitionen zur Rettung der Republik wurden nicht honoriert. Im Gegenteil: Sie, die den neuen Staat geschaffen hatten, wurden zu Sündenböcken gestempelt.
Niemand wird mir vorwerfen können, daß ich zu denen gehöre, die vergessen machen wollen, was eigene Schuld und eigene Schwäche oder Überheblichkeit in unserer jüngeren und jüngsten Geschichte bedeutet haben. Und doch muß ich auch hier daran erinnern, daß das Ausland es den Demokraten Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg gewiß nicht leicht gemacht hat. Den Demokraten in Deutschland war man nicht bereit zuzubilligen, was auch im Interesse Europas und des Friedens lag. Der Diktatur Hitlers billigte man zu oder ließ ihr einfach, was sie sich genommen hatte. – Es ist bitter, sich daran zu erinnern, denn am 9. November jährte sich auch ein anderes Ereignis; seit der schmachvollen „Kristallnacht“ sind 30 Jahre vergangen.
So sehr das Verantwortungsbewusstsein und der verzweifelte Kampf der Sozialdemokraten jener Zeit zu bewundern sind, bleibt doch die Erkenntnis, daß die Partei auf die Aufgaben der Macht im Staat nicht oder kaum vorbereitet war; daß sie es gerade in dieser Frage schwer hatte, mit sich selbst ins reine zu kommen; und daß sie es anderen leichter gemacht hat, als es notwenig war, aus der Regierungsverantwortung verdrängt zu werden. Auch insoweit gilt es, aus der Geschichte zu lernen und die für unsere Zeit notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Inzwischen hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit ihrem Godesberger Programm einen entscheidenden Schritt getan, um die Demokratie in unserer Bundesrepublik nicht nur zu bewahren, sondern sie zu verankern, zu verbreitern und zu vertiefen. Dabei dürfen und können wir nie vergessen, daß es den anderen Teil Deutschlands gibt, dessen offizielle Repräsentanten uns nicht nur stören, sondern auch geistig-politisch immer wieder auf den Plan rufen.
Wir hier in der Bundesrepublik arbeiten daran, die Integration des arbeitenden Menschen in unseren Staat zu verwirklichen. Dieser Staat wurde vor all seinen Bürgern nach den totalen Zerstörungen des zweiten Weltkrieges aufgebaut. Dabei geben wir uns keinen Illusionen hin, denn wir wissen, wie viel noch zu tun übrig bleibt. Wir wissen, daß der demokratische Gedanke- über das Formale hinaus – von unseren Mitbürgern tiefer und intensiver erfaßt werden muß.
Wir wissen aber auch, daß die Demokraten in dieser Bundesrepublik nicht mehr in der Minderheit sind. Wir wissen, daß man in dieser Bundesrepublik nicht mehr ohne oder gar gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Politik machen kann. Das ist ein wichtiger Tatbestand.
Diese Sozialdemokratische Partei Deutschlands des Jahres 1968 ist in der über hundertjährigen Parteitradition verwurzelt. Sie hat, aus Unzulänglichkeiten der Vergangenheit lernend, ein neues und nicht mehr zu zerstörendes Verhältnis zur Macht im Staat gewonnen. Alle den fast alle wissen: dies ist eine unerlässliche Voraussetzung, um sozialdemokratische Vorstellung verwirklichen zu können. Wir, die wir diese Partei führen und für sie sprechen, haben nicht die Absicht, uns von dem eingeschlagenen Weg abbringen zu lassen. Wir sehen es als unsere Pflicht, den Staat zu prägen und die Demokratie lebendig zu machen.
Als Parteivorsitzender wiederhole ich in dieser Stunde die Worte des Neubegründers der deutschen Sozialdemokratie nach dem Zusammenbruch des Jahres 1946: „Der Sozialismus bracht die Demokratie – die Demokratie braucht den Sozialismus.“
Die aktive, beharrliche und illusionslose Politik des Friedens, die ich im Namen der Regierung der Bundesrepublik vertrete, entspricht der Friedenspolitik, der sich die deutschen Sozialdemokraten von allem Anfang an verschrieben haben. Wie oft wurden sie doch als Landesverräter abgestempelt, wenn sie eintraten für die Aussöhnung mit Frankreich, für die Vereinigten Staaten von Europa, für viele Dinge, die dem Frieden dienten oder dienen sollten.
Ich bin stolz darauf, diese Politik heut nicht nur aktiv im Namen des deutschen Volkes auf internationalen Konferenzen vertreten zu dürfen, sondern damit auch einer Kontinuität sozialdemokratischen Wirkens entsprechen zu können. Viele meinen, daß dies dem ansehen des deutschen Volkes mehr dient als große Worte, hinter denen nichts Gutes stand. Ich bin jedenfalls entschlossen, diese Politik unbeirrbar fortzusetzen.
In der Fortführung der Friedenspolitik werde ich mich auch nicht durch die tragischen Ereignisse der letzten Monate in unserem Nachbarland, der Tschechoslowakei, abbringen lassen. Ich in den kommunistisch regierten Ländern, auch in der seit über 50 Jahren von Kommunisten regierten Sowjetunion findet man immer wieder, und zwar zunehmend, Veranlassung, sich mit dem auseinanderzusetzen, was man dort Sozialdemokratismus nennt. Gerade an diesem Tage, an dem wir der Umwälzung des Jahres 1918 gedenken, muß jenen, die damals und später aus Überzeugung meinten, in Deutschland hätte es nur am „radikalen“ Weg gefehlt, gesagt werden: Die Erfahrung beweist, daß die sogenannte Diktatur des Proletariats schnell und zwangsläufig zur Diktatur einer Partei, einer Minderheit, einer führenden Gruppe, manchmal nur einer Person führt – mit all den furchtbaren Konsequenzen, die damit verbunden sind.
Dies konnte nicht der Weg der Sozialdemokraten sein, und manchen jungen Menschen, die uns heute aus verschiedenen, nicht immer unverständlichen Gründen kritisieren, möchte ich sagen: Wir können aber vieles miteinander sprechen; wir sind bereit, die Entwicklungen unserer Demokratie zu überprüfen; wir sind entschlossen, Reformen durchzuführen; wir wissen, daß Demokratie den Stillstand nicht erträgt und eines guten Fortschreitens bedarf. Nie aber werden wir bereit sein, die Diktatur einer Schicht, einer Gruppe oder einer Partei anzuerkennen. Und wir sind selbstbewusst genug zu erklären: Früher oder später werden sich auch in den nicht-demokratisch regierten Ländern die Gedanken der Demokratie, der Freiheit und des Humanismus deutlicher zu Wort melden und – wie ich hoffe – letztlich durchsetzen.
Aus dem Wissen um die Kräfte die in unserm Volk lebendig sind; aus dem Wissen um die Aufgaben, die von der Entwicklung der deutschen Dinge heute und morgen gestellt werden, kommt meine Überzeugung, daß wir aufgerufen sind, die Geschichte unseres Staates, unseres Volkes, unserer Gesellschaft noch stärker als bisher als das zu sehen, woran wir gemessen werden. Wir dürfen uns der Staatspolitik nicht entziehen. Wir müssen bestrebt sein, sie noch stärker zu beeinflussen und in unsere Hände zu nehmen.
Es gibt Leute, die sich voreilig den Kopf darüber zerbrechen, was nach den Bundestagwahlen im Oktober 1969 sein wird. Ich meine, bis dahin ist noch viel Arbeit zu leisten. Und dann hat der Wähler das Wort. Niemand hat ein Recht, ihm vorzugreifen.
Auf den jüngsten Parteitag der CDU spürte man eine gewisse Sehnsucht nach einem bequemeren Partner. Damit können wir leider nicht dienen. Wir sind nicht klein, sondern ebenbürtig. Wir sind nicht bequem, aber zuverlässig.
Niemand kann nämlich mehr übersehen, daß die Dinge in der Bundesrepublik durch unsere maßgebliche Mitwirkung nicht nur ins Lot gebracht, sondern daß auch auf einigen Gebieten die Weichen neu gestellt worden sind. Planende Vorausschau wird nicht mehr lächerlich gemacht, sondern praktiziert. Strukturelle Reformen werden nicht mehr geleugnet, sondern angepackt. Gemeinschaftsaufgaben werden nicht mehr bagatellisiert, sondern ernst genommen. Deutsche Friedenspolitik wird Wirklichkeit, allen Schwierigkeiten zum Trotz. Im Ringen um den Zusammenhalt des deutschen Volkes rangieren die Menschen vor den Wunschvorstellungen.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Es kommt darauf an, unseren Beitrag zur praktischen deutschen Politik noch deutlicher zu machen. Es kommt darauf an, den Zusammenhag darzustellen mit den Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren. Es kommt auf die deutschen Sozialdemokraten auch darauf an, den Kontakt mit der politischen Geschichte und mit dem ideenmäßigen Zusammenhang, in den wir hineingestellt sind, nicht lockern, sondern zu verstärken.
Man fragt uns, was wir anstreben im nächsten Jahr. Ich sage, wir wollen stärker werden, wir wollen unsere führende Rolle in der deutschen Politik verstärken; wir wollen das Mandat erhalten, noch mehr zu leisten für unser Volk. Darauf kommt es an. Das müssen wir klarmachen. Das dürfen wir weder zerreden noch zerreden lassen.
Wenn wir das schaffen, werden wir – so denke ich – dem gerecht, was uns der November 1918 und die Zeit danach vermittelt.