Die improvisierte Revolution
Legende und Wirklichkeit des November 1918 in Deutschland
Von Waldemar Besson
... Der Rat der Volksbeauftragten konnte nur existieren, wenn er die Balance zwischen der militärischen Führung und den radikalen Kräften der Arbeiterschaft hielt. Dabei hätten die Räte eine wichtige Hilfe sein können. Diesen galt deshalb in den letzten Jahren immer stärker das Interesse der Forschung. War die erste Phase der Diskussion um den November 1918 in der historischen Publizistik bestimmt von der Frage nach der Vorgeschichte der Revolution, so gehört die zweite, in der wir uns befinden, der Frage nach den Chancen, die ein freiheitlicher Sozialismus zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem Leninschen Modell im November und Dezember 1918 tatsächlich gehabt hat. Hätten nicht Räteverfassung und parlamentarische Demokratie parallel entwickelt werden müssen, um die Chance weiterer Veränderung in sozialreformerischer Absicht auch tatsächlich offenzuhalten?
Nach den Büchern von Walter Tormin, Peter v. Oertzen und Eberhard Kolbe kennen wir das Räteproblem genauer. Die Frage nach der Art des zukünftigen sozialistischen Deutschland fand ihre erste Antwort im Streit zwischen SPD und USPD darüber, wann die Revolution als beendet anzusehen sei. Aus dem brodelnden Kessel der radikalen Gärung stieg immer lauter der Ruf nach einer zweiten, einer wahren Revolution empor. Gewiß, der Rat der Volksbeauftragten hatte in kurzer Zeit wichtige soziale Reformen verfügt, um die die Arbeiterbewegung lange vergeblich gekämpft hatte. Der Achtstundentag wurde dekretiert, eine provisorische Arbeitslosenversicherung geschaffen, Arbeitsplätze für heimkehrende Soldaten gesichert und die Lage der Landarbeiter fühlbar verbessert. Den Beamten wurde das Koalitionsrecht gewährt. Tarifverträge zwischen Unternehmern und Gewerkschaften galten jetzt als verbindlich für die jeweiligen Erwerbszweige. Alle Deutschen über zwanzig Jahre erhielten in Reich und Ländern das gleiche und geheime Wahlrecht. Das alles geschah, während gleichzeitig die harten Waffenstillstandsbestimmungen schwere Lasten auferlegten und ein Millionenheer zu demobilisieren war.
Aber die radikalen Kräfte wollten mehr. Ein bloß reformierter Kapitalismus war ihnen zu wenig. Sie spürten wohl die Gefahr, daß die sozialen Errungenschaften der Revolution ja wieder gefährdet waren, falls sich die Waffe des Stimmzettels als stumpf erwies. Vielleicht war mancher Radikale realistischer in seiner Einschätzung der beharrenden Kräfte, als dies der Optimismus der SPD-Führung zuließ. War sie doch ganz sicher, daß eine möglichst bald zu berufende Nationalversammlung ihr die Führung auch weiterhin anvertrauen würde. Deshalb fand sie auch die Forderung unbegründet, die Macht der Räte mindestens so lange durchzuhalten, bis die neue Verfassung geschaffen und die sozialen und politischen Veränderungen institutionell gesichert waren. Freilich, was die Räte tun sollten, war keineswegs klar. Die radikale Linke hatte weder eine schlüssiges Konzept noch eine einheitliche Führung. Realistisches und Utopisches vermischten sich in der Forderung nach unverzüglicher Verteilung der Kriegsgewinne und der auf Kosten der Arbeiter in langen Jahrzehnten angesammelten Reichtümer. Liebknecht und Luxemburg wollten die Diktatur des Proletariats, auch wenn sie damit etwas anderes meinten als ein totalitäres Herrschaftssystem à la Stalin.
Frankfurter Allgemeine, 25.10.1968