Spartakus im Lorbeerkranz?
Von Alfred Rapp
Daß der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Willy Brandt, am Sonntag in der Gedenkstunde der SPD zur fünfzigsten Wiederkehr der Novembertage fon 1918 seinen Vorgänger im Amt des Vorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert, würdigen wird, ist mehr als eine historische Erinnerung. Diese deutsche Novemberrevolution heißen heute manche in der Bundesrepublik die durch Friedrich Eberts Schuld verfehlte Revolution. Sie sprechen zwar nicht von den Bolschewisten des Jahres 1917, doch von unseren damaligen Spartakisten des Jahres 1918 und deren Rätestaatprogramm. Die Forderung radikaler antiparlamentarischer Opposition in der Bundesrepublik von heute mit dem Motto „Alle Macht den Räten“, was auch immer diese Räte sein würden, gewinnt die rückwärts gewandte Fassung im Protest gegen Friedrich Ebert, der kein Räteregiment wollte, sondern auf Einberufung der vom ganzen Volk gewählten Nationalversammlung bestand, welche die Verfassung der Weimarer Demokratie beschloß.
Die Verfassung heißt die Weimarer, weil die damalige Nationalversammlung in Weimar tagte. Aber sie tat es nicht wegen der Goethestadt. In der Hauptstadt Berlin wurde vielmehr scharf geschossen, und die Legende, die Novemberrevolution von 1918 sei in Pantoffeln passiert, ist so unausrottbar wie unrichtig. Die Straßenkämpfe im Berlin von 1918 waren wahrscheinlich blutiger als die im Petersburg von 1917; und es ist schlicht albern, immer wieder Lenins Worte zu zitieren, deutsche Revolutionäre lösten erst Bahnsteigkarten, ehe sie den Bahnhof besetzten. Die Matrosen der „Volksmarinedivision“ lösten keine Eintrittskarten, ehe sie das Berliner Schloß und das Berliner Polizeipräsidium besetzten. Sie wären wahrscheinlich, wenn sie darauf bestanden hätten, Deutschlands Matrosen von Kronstadt geworden, die Gefährten der russischen Verkünder des Räteregiments, die von den Bolschewisten zusammengeschossen wurden; und Friedrich Ebert sah voraus, daß am Ende solchen ratlosen Räteregiments die kommunistische Diktatur stehen würde.
Wer Ebert heute anklagt, er habe den Durchbruch Deutschlands zu wahrer Demokratie verhindert, muß klar sagen, daß er die Weimarer wie dann auch die bundesdeutsche Demokratie für keine hält und daß er unter „Demokratie“ versteht, was keine wäre. Der Streit um Friedrich Ebert ist keine historische, er ist eine aktuelle Diskussion. In der wünschenswerten Klarheit muß gesagt werden, daß die Anklage gegen Ebert heißt, nicht der Lenin Deutschlands geworden zu sein. Daß er vielmehr einen deutschen Lenin verhinderte, galt bislang allen Demokraten als ein großes Verdienst. Heute jedoch eifern manche, die lauthals von Demokratisierung reden, gegen den Demokraten Ebert an; und wenn sie Ebert sagen, meinen sie unsere Demokratie. Den Revolutionshysterikern unserer Tage ist Revolution zum Zauberwort geworden; Revolution ist Mode. Wer auf der Höhe der Zeit sein will, nicht als rückständig gelten will, dem muß das Wort Revolution geläufig über die Lippen kommen.
Ob alle diese Revolutionsadepten sich auch freuten, wenn der Umsturz der Gesellschaft tatsächlich passierte, ist freilich anzuzweifeln. Mancher „Salon-Revolutionär“, das Whiskyglas in der Hand, eines Gehaltszettels nicht unbeträchtlichen Grades an jedem Monatsersten oder doch stattlicher Jahreseinnahmen gewiß, der sich über die großen Sünden der Wohlstandsgesellschaft ereifert, wäre doch erschrocken, wenn alles umgestürzt würde. Es wird ja auch kaum einer von denen, die auf den Straßen gegen die Not in fremden Ländern protestieren, Entwicklungshelfer. Es macht viel weniger Mühe, Demonstrant als Entwicklungshelfer zu sein, und nicht diese, sondern die Demonstranten kommen auf die Bildschirme. Doch der Bürger, dem all das Revolutionsgeschrei mißtönend klingt, heißt Spießbürger. Wer aber, der sich höherer Intelligenz rühmt will schon Spießbürger sein? Er fühlt sich also, wenn auch nur in Worten, Revolutionär zu sein und beim Rückblick auf das Geschehen vor fünfzig Jahren in Deutschland zurückzuzucken, wenn der Name Ebert fällt. Friedrich Ebert verklärte ja auch nicht jeden Revolutionär von vornherein und unbesehen zum Freiheitskämpfer.
Solche Besonnenheit und solche Nüchternheit nennen aber ein halbes Jahrhundert später die angeblichen Gralshüter der Demokratie heute einen Sündenfall in die Reaktion. Wurde Ebert in Hitlers verdorbener Sprache zum „November-Verbrecher“, so wird er heute unseren Revolutionsmonomanen zum „November-Verräter“. Er hat die Arbeiterschaft, den Sozialismus verraten, wird im Rückblick auf 1918 behauptet, weil er nicht das Rätesystem gewollt, sondern die neue Republik mittels des Votums der Nationalversammlung gegründet hat.
Wer verdammt, was Ebert vor fünfzig Jahren tat, sagt der parlamentarischen Demokratie von heute ab. Wer bitter beklagt, daß Ebert nicht die Arbeiter- und Soldatenräte von damals als Autorität installierte, sondern die durch allgemeine Wahl legimitierte Autorität der Volksvertretung wollte, wünscht solches Räteregime statt des parlamentarischen Systems von heute; ungeachtet dessen, daß die Räte im Petersburg von 1917 nur der Übergang zum kommunistischen System waren. Fünfzig Jahre nach 1918 wird in der Bundesrepublik versucht, dem Spartakus-Bund einen Lorbeerkranz zu flechten. Um so wichtiger werden Brandts Worte für Friedrich Ebert sein.
Die Frankfurter Allgemeine, 06.11.1968