Zentralrat der Ohnmacht

Die Selbstzerstörung des deutschen Rätesystems

Von Hermann Weber

… Das Dilemma des Zentralrats lag im Verhältnis der Sozialdemokraten zu den Räten. Diese politische Form war für die Genossen etwas Neues, sie wußten mit ihnen nichts anzufangen. Auch der Zentralrat betrachtete das Rätesystem nicht als ein Mittel zur Demokratisierung der Gesellschaft; die meisten Mitglieder forderten vielmehr, die Räte müßten „möglich rasch“ verschwinden; sie seien schädlich, sobald „demokratische Zustände“ geschaffen seien. Mit der Wahl der Nationalversammlung glaubte man diese „demokratischen Zustände“ bereits verwirklicht. Darum hielt der Zentralrat seine Existenz für überflüssig, als die Nationalversammlung und die preußischen Konstituante zusammentraten, obwohl praktisch noch keine der Aufgaben gelöst war, die der Rätekongreß gestellt hatte.

Ebenso wie die Regierung erblickte auch der Zentralrat im „Bolschewismus“ die Hauptgefahr; gerade während der Januarkämpfe, beim sogenannten Spartakus-Aufstand, hat er sich weitgehend mit der Regierung solidarisiert. Auch der Zentralrat meinte, die königlich-preußischen und kaiserlichen Militärs könnten die Lage ordnen. Die Motive waren allerdings verschieden, so sagte das Mitglied Zwosta: „Wenn wir im Kampf stehen, so ist es ganz gleich, ob da ein Militär oder ein Genosse kämpft … Das Gesindel, das sich jetzt in den Straßen herumtreibt, muß ordentlich bekämpft werden. Ich freue mich, daß die Leute (die Militärs, H. W.) gewillt sind, endlich Ordnung zu schaffen.“ Anders argumentierte der auf dem linken Flügel stehende Sozialdemorat Wäger: „Wenn die Volksbeauftragten etwas mehr getan hätten, um unsere Ziele zu verwirklichen, dann hätten wir nicht diese scharfe Gegenagitation gehabt … Die größte Schuld trifft unsere Parteigenossen, die in der Regierung sitzen“ Aber auch er konstatierte: „Es bleibt uns nichts übrig, als mit Hilfe dieser Kreise (der „Bürgerlichen“, H.W.) die Sache niederzukämpfen … Aber die Geschichte wird die Tatsache feststellen, daß die Sozialisten Deutschlands sich lediglich am Ruder gehalten haben mit Hilfe dieser Leute.“ Andere meinten, „diese Korona“ sei mit 200 Soldaten „über den Haufen zu rennen“, eine Vorstellung, die selbst Ebert zu weit ging.

Nicht weniger scharf reagierte der Zentralrat auf den „äußeren Feind“, vor allem Polen. Militärische Unternehmungen gegen Polen galten bei der Mehrheit auch dann noch als „Verteidigung des Vaterlandes“, wenn es sich um Kämpfe, in Posen handelte. Von diesem Geist beherrscht, widersprach schon im Dezember 1918 niemand dem General Groener, als er behauptete, der „Militarismus“ sei „etwas ganz Gutes gewesen“. Keiner hörte auf die Warnungen des „unabhängigen“ Volksbeauftragten Dittmann, der Zentralrat begehe „Selbstmord“, wenn er sich auf diese Politik einlasse. In der Tätigkeit geriet der von militantem Nationalismus und Antikommunismus bestimmte Zentralrat in dieselbe Sackgasse wie die Regierung: im Kampf gegen die radikale Linke und den „äußeren Feind“ war er auf die Hilfe des Militärs und der früher herrschenden Schichten angewiesen; Schritt für Schritt mußte er diesen Kräften Zugeständnisse machen.

Damit waren ihm bei allen Reformversuchen die Hände gebunden. Der Zentralrat gab sogar in den beiden wichtigsten Fragen die Positionen des Rätekongresses auf: er konnte weder die Sozialisierung der Wirtschaft vorantreiben noch die Demokratisierung der Armee durchsetzen. In langen Diskussionen wurden die Beschlüsse des Rätekongresses verändert, ja, oft in ihr Gegenteil verkehrt. Zusehends isolierte sich das „Ersatzparlament“. Anfang Februar 1919 wurde es von den Soldatenräten der Ostfront heftig kritisiert: der Zentralrat habe „die ihm vom Reichskongreß übertragende Aufgabe, die revolutionären Errungenschaften zu sichern und aufzubauen, in keiner Weise durchgeführt“. Der Jenaer Soldatenrat schrieb Ende 1919 voller Zynismus an den „Zentralrat der bürgerlich-kapitalistischen Republik“.

Der Zentralrat war nicht nur politisch unbeweglich; aus den Dokumenten geht unmißverständlich hervor, daß seine Mitglieder weder den Volksbeauftragten noch der Bürokratie politisch gewachsen waren. Geschickt dirigierte der Vorsitzende August Leinert den Zentralrat im Sinne der Regierung. Opposition wurde aufgefangen, manipuliert, und spätestens nach ein oder zwei Sitzungen hatte der Zentralrat kapituliert. Sogar das zunächst betonte Recht seiner Mitglieder, den Bestand der Regierung zu bestimmen, wurde rasch zur Farce: Ende Dezember 1918 mußte er erst aus der Presse erfahren, daß es nach dem Austritt der Unabhängigen“ aus der Regierung statt der vereinbarten sechs nurmehr fünf Volksbeauftragte gab. Der Zentralrat protestierte heftig, ging aber bald zur Tagesordnung über, und Ebert konnte sagen: „Es geht nicht an, daß uns ein sechster (Volksbeauftragter eventuell aufoktroyiert wird.“ …

Die Zeit, Hamburg, 11.04.1969.