Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart
„Zurück zu Marx“ hieß das 1926 in Leipzig erschienene Buch von J. Kuczynski, das der professoralen und sozialdemokratischen Interpretationsweise durch einen Rückgriff auf die Quellen Einhalt gebieten wollte.
Vierzig Jahre später ist dieser Ruf gebrochener, aber bei weitem materialreicher motiviert. Es stehen die für die Marxsche Theorie sehr wichtigen Texte, die erst ab 1932 ediert wurden, heute zur Verfügung – so die „Deutsche Ideologie“ (1932), die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ (1932) und die „Grundrisse“ (1953).
Die Herausgabe der Gesamtwerke von Marx und Engels scheint heute von der Qellenlage [sic!] her leicht möglich zu sein. Zwar liegt noch immer keine vollständige deutsche Gesamtausgabe vor, dennoch sind die vorliegenden Ausgaben durchaus mit eine kritische Rezeption dieser ersten form der revolutionären Theorie geeignet.
Die auf 36 Bände berechnete DDR-Ausgabe, die die bedeutendsten Frühwerke nur unvollständig aufgenommen hat, soll ergänzt werden. Die Marxschen Frühschriften liegen in DDR-Einzelausgaben, in der sehr sorgfältigen Marx-Studienausgabe von Lieber und Kautsky (Cotta-Verlag – Stuttgart 1960 ff.) und in der von G. Hillmann herausgegebenen Rowohlt-Taschenbuch-Ausgabe (3 Bde., 1966/67, Nr. 194/5, 209/10, 218/19) vor.
Scheint es uns nun richtig zu sein, die Engelschen Mißdeutungen des Historischen Materialismus (s. A. Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt am Main 1962, bes. S. 41 ff.) sehr genau vom originär Marxschen Materialismus zu unterscheiden, so erscheint uns der Versuch der „Wiederherstellung“ des Marxismus durch einen unmittelbaren und direkten Rückgriff auf den „reinen“ Marx das Wesen und die Methode von Marx zu verfehlen. Wir sollten uns die Antwort auf die Kapital-Rezension von Michailowski ins Gedächtnis rufen: „Er (Michailowski RD) muß durchaus meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern vorgeschrieben ist […] Aber ich bitte um Verzeihung. (Das heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun)“. Er wendet sich mit allem Nachdruck gegen den scheinbaren „Universalschlüssel einer geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.“ (Marx-Engels-Werk, Bd. 19, S. 111/112, Berlin 1962). So sind dann auch die materialen Analysen im Marxschen Werk sehr oft relevanter als die „berühmten“ Vorworte oder Einleitungen. Ansätze geschichtsphilosophischer Konstruktion werden in der historisch-materialistischen Analyse flüssig gemacht, wovon Marx im Rohentwurf (Grundrisse) zum Kapital nur zu sehr Zeugnis ablegt. Ein geradezu klassisches Beispiel dieser konkreten materialistischen Dialektik ist die dortige Untersuchung der vorkapitalistischen Produktionsformen (S. 375-413). Dialektik erscheint hier in der einzig möglichen Form: als konkrete Geschichtsschreibung.
Da für Marx die Gesamtgeschichte nicht beherrscht wird durch eine der Geschichte immanente und unverlierbare Sinnidee, so versteht es sich für ihn von selbst, die verschiedenen Perioden der Geschichte als verbundene Einzelprozesse zu begreifen und jeweils konkret zu analysieren. Die Machbarkeit der Geschichte durch Menschen wird zwar im Laufe der Entfaltung der Produktivkräfte objektiv-potentiell größer, dieselbe schlägt aber immer wieder um in Beherrschung der Menschen durch die von ihnen geschaffenen Verhältnisse der Produktion und Reproduktion des Lebens, wird solange umschlagen, bis die „neuen Menschen“ (für Marx die Arbeiter) durch die revolutionäre Aktionen dieser Reproduktion „der Herrschaft der totgeschlagenen Materie über den Menschen“ ein Ende bereiten. Hier ist nichts verbürgt, nichts in der Materie angelegt: alles ist bedroht durch die Möglichkeit des Untergangs der „kämpfenden Klassen“. Jeder Klasse kann ihre historische Mission geschichtlich „verpassen“, kann scheitern – andere „Klassen“ müssen dann unter neuen historischen Bedingungen „alte Kämpfe“ austragen. Geschichtsbewußtheit und verantwortungsbewußte praktisch-umwälzende Tätigkeit allein vermögen dies zu leisten. Die kritische Aneignung der Marxschen Theorie, die zu beiden Faktoren entscheidendes beitragen kann, ist nun nur möglich durch eine Aufhebung der politischen Geschichte des Marxismus, „durch die Geschichte des Marxismus hindurch, die in hohem Maße eine Geschichte von Fehlinterpretationen und Entstellungen ist, die dem ursprünglichen Impuls nicht nur äußerlich sind“ (A. Schmidt, Nachwort in: H. Lefebvre, Probleme des Marxismus, heute, ed. Suhrkamp, Nr. 99, 1965).
Diese ausgewählte Bibliographie will nichts als die wesentlichen Prozeßpunkte der Entstehung, der Entfaltung, der Rezeption und Weiterentwicklung der marxistischen Theorie literaturgeschichtlich kennzeichnen.
Mag auch P. Kropotkins Hinweis darauf, daß „England in den 40iger Jahren an der Spitze der sozialistischen Bewegung Europas stand […] große Bewegung, welche die arbeitenden Klassen so tief erregte, und in deren Verlauf bereits alles, das sich jetzt als wissenschaftlicher oder anarchistischer Sozialismus darbietet, ausgesprochen worden ist“ (P. Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs, Bd. 2, S. 294, Stuttgart, o.b.J.) übertrieben erscheinen, so ist es dennoch für die Entstehungsgeschichte des Marxschen Denkens unerläßlich, diesen „vormarxistischen“ Sozialismus wieder in Erinnerung rufen.
Der Beitrag „Londoner kommunistische Diskussionen, 1845 nach dem Protokollbuch des C.A.B.V.“ von M. Nettlau im „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ (Vol. 10, 1922, S. 362 – 391, Neuauflage bei Pinkus gerade erschienen) vermittelt einen hervorragenden Eindruck von den der Ausarbeitung des „Kommunistischen Manifestes“ von Marx vorausgehenden Diskussionen des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins über das Wesen und die praktische Verwirklichung des Kommunismus.
W. Weitling, der sich für eine unmittelbare Verwirklichung des Kommunismus aussprach, wurde von K. Schapper, der seine Arbeit als theoretisch-propagandistische Vorarbeit für kommende Geschlechter verstanden wissen wollte, angegriffen. „Schapper: Der Kommunismus konnte bisher nicht verwirklicht werden, weil der Verstand nicht gehörig ausgebildet war. […] Unsere Tätigkeit ist für kommende Geschlechter, diese mögen praktisch durchführen, was wir auf dem Wege der aufklärenden Propaganda bloß theoretisch verbeiten [sic!] können.
Weitling:[…] Das heißt ein ewiges Verschieben von heute auf morgen, von morgen auf Übermorgen [sic!]. […] So drehen wir uns denn immer in der alten Leier und kommen zu nichts. […] Die Menschheit ist notwendig immer reif oder wird es nie. Letzteres ist die Redensart unserer Gegner […]“ (S. 368) Weitling wendet sich auch besonders gegen die Illusionen Schappers über die gewaltlose Aufklärungsrevolution: „Die Aufklärung hat gar Nichts für uns errungen in politischen Beziehungen außer durch die Revolution und immer erst nach der Revolution wirkte die Aufklärung. … Die Aufklärung auf friedlichem Wege ist eine Illusion“ (S. 378).
Ernst Schräepler „Der Bund der Gerechten. Seine Tätigkeit in London 1840-1847“ im Bd. II vom „Archiv für Sozialgeschichte“, Hannover 1962, S. 5. – 29, stellt die Ergänzung der Nettlauschrift dar und leitet über zu der direkten Beziehung zwischen dem Bund und dem kommunistischen Korrespondenzbüro in Brüssel unter der Leitung von Marx und Engels, die es 1846 gegründet hatten; zeigt den Prozeß der Verwissenschaftlichung der sozialistischen Theorie. Cabets ikarische Republik und die Weitlingschen Siedlungspläne in Armerika stießen immer mehr auf Ablehnung, aber die Moll und Schapper vermochten nicht aus eigener Kraft ein „positives“ Programm auszuarbeiten. Die im Frühjahr 1847 durch Moll hergestellte direkte Verbindung mit Marx führte schon im Dezember desselben Jahres zu dem für Marx „ehrenvollen Auftrag, ein kommunistisches Grundsatzprogramm auszuarbeiten, das Kommunistische Manifest“.
Das Scheitern der Revolution 1848 stellte für das Marxsche Werk einen starken Einschnitt dar. Da die Theorie der proletarischen Revolution, wie sie von Marx zwischen 1844 und 1848 in Zusammenarbeit mit Engels ausgearbeitet worden war, ihre Stärke in der Verbundenheit mit der wirklichen Bewegung der Klasse hatte, mußte sich die Niederlage der Revolution auch theoretisch bemerkbar machen.
Die in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, der „Deutschen Ideologie“ - bes. Feuerbach-Einleitung-, dem „Elend der Philosophie“ und dem „Kommunistischen Manifest“ zu findende Revolutionstheorie zeichnet sich gerade darin aus, daß sie die einzelwissenschaftliche Trennung von Ökonomie, Politik, Ideologe, wissenschaftlicher Theorie und gesellschaftlicher Praxis nich [sic!] kannte. Ein Kurz-Kommentierung dieser grundlegenden Werke verbietet sich vom Gegenstand her; nur einige Anmerkungen: Die „Manuskripte“ begründen auf der Basis einer philosophischen Interpretation des menschlichen Wesens die Notwendigkeit der „Totalen Revolution“ gegen den Kapitalismus, der nicht nur ökonomische Krisen periodisch „produziert“, sondern eine „Katastrophe des menschlichen Wesens“, eine „Verkehrung seines Wesens“ bedeutet. Die Erstinterpretation dieser Schrift durch H. Marcuse, in: Die Gesellschaft, 1932, Nr. 8, S. 138-174 scheint uns noch immer am besten die Marxsche Revolutionstheorie zu erklären.
Diese Theorie wird in der der Feuerbach-Passage der „Deutschen Ideologie“ (MEW, Bd. 3. S. 17-77, Berlin 1962) weiterentwickelt. Hier dürfte das, was später der Historische Materialismus genannt wurde, erstmalig in vollständiger Form vorliegen. Die Explikation der historisch verschiedenen Entwicklungsstufen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den damit parallel laufenden verschiedenen Formen des Eigentums führt Marx zu der Herausarbeitung des fundamentalen Gegensatzes der „modernen“ bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: „Die Produktivkräfte erscheinen als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigene Welt neben den Individuen […], eine Totalität der Produktivkräfte, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben und für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen, sonders des Privateigentums, und daher der Individuen nur insofern sie Privateigentümer sind.“ Diese verselbständigten Produktivkräfte stehen auf der anderen Seite „die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese Kräfte losgerissen sind und die daher alles wirklichen Lebensinhalts beraubt, abstrakte Individuen geworden sind, die aber dadurch erst in den Stand gesetzt werden, als Individuen miteinander in Verbindung zu treten.“ (s. o., S. 67).
Um die gefährdete materielle Existenz zu retten, um die jenseits der Existenzsicherung liegende Selbstbetätigung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen zu erreichen, müssen sie die durch die gemeinsame Bedrohung vereinigten Individuen diese fremdgewordenen Produktivkräfte universell aneignen.
Die weltgeschichtliche Entfaltung der Produktivkräfte durch den Weltmarkt entwickelt „die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart“ (S. 68) zu „universellen“, zu „weltgeschichtlichen Individuen“ mit „universellen Bedürfnissen“. Die kommunistische Revolution „ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker auf ‚einmal’ oder gleichzeitig möglich, was die universelle Entfaltung der Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt“ (s. o., S. 35).
Diese universelle Entfaltung der Produktivkräfte ist aus einem doppelten Grunde notwendig, a) um die Individuen zu weltgeschichtlichen, von universellen Bedürfnissen getriebenen zu machen; b) um die Verallgemeinerung des Mangels, „also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte“ (S. 34), zu verhindern.
Neben den sehr aufschlußreichen Abhandlungen über die Bedeutung des Weltmarktes für die Revolutionierung der Welt, heute von besonders großer Aktualität, sind die Ausführungen über den Klassenbegriff in der Geschichte zu nennen. Der Prozeßcharakter dieser historischen Kategorie wird in der historisch-operativen Benutzung sichtbar. Die teilweise noch verhüllten Klassenverhältnisse der vorkapitalistischen Formationen werden in der durch das Kapital beherrschten bürgerlichen Gesellschaft offenbar und wissenschaftlich darstellbar; der Klassengegensatz tritt auf in der „Form“ von Lohnarbeit und Kapital, Lohnarbeiterklasse und Kapitalistenklasse. Das ist die Zeit der „transistorischen Notwendigkeit“ des Kapitalismus und der Kapitalistenklasse. Der weiter oben zitierte Gegensatz von versachlichten Fremd-Produktivkräften und abstrakten Individuen weist schon über diese klassisch-kapitalistische Periode hinaus, was im „Elend der Philosophie“, dem nächsten Hauptwerk von Marx, explizit zu finden ist: „Mit dem Moment, wo die Zivilisation beginnt, beginnt die Produktion sich aufzubauen auf den Gegensatz der Berufe, der Stände, der Klassen, schließlich auf den Gegensatz zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit. Ohne Gegensatz kein Forschritt […] Bis jetzt haben sich die Produktivkräfte auf Grund dieser Herrschaft des Klassengegensatzes entwickelt.“ (Berlin 1960, S. 81 - Hervorhebungen von RD). Es gibt also für Marx eine jenseits der revolutionären Klassengesellschaft liegende kapitalistische Gesellschaft, eine „schlechte Aufhebung“ der kapitalistischen Gesellschaft.
Die in dieser Hinsicht sehr interessanten und wichtigen „Thesen zur Klassentheorie von Marx“ vom leider so früh verstorbenen Gen. M. Mauke (in NK Nr. 34, S. 29 ff) sollten den Ausgangspunkt für eine innerverbandliche Diskussion über diesen für unsere politische Praxis so entscheidenden Zusammenhang bilden. Die Klassenfrage ist die Frage nach dem Träger der Gesellschaft umwälzenden Prozesses. Es ist zu hoffen, daß sich die Herausgabe des wissenschaftlichen Nachlasses von Mauke, dessen Dissertation diese Frage zentral zum Gegenstand hatte, bald realisiert.
Das [sic!] es sich bei dieser Problemstellung nicht um eine der vielen „Jugendsünden“ (für die Dogmatiker) Marxens handelt, sondern um einen im „Kapital“ verwissenschaftlichen Sachverhalt geht, beweisen die dortigen Ausführungen über die Aktiengesellschaften, die er als „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst“ begreift, als „Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform“, als die „Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums“, „Noch [sic!] befangen in den kapitalistischen Schranken“. Aber „statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlichem und Privatreichtum zu überwinden, bildet die Aktie ihn nur in neuer Gestalt aus.“ (Kapital III, Berlin, 1961, S. 478 ff.)
„Das Elend der Philosophie“ (1846), um das noch hinzufügen, expliziert in der Auseinandersetzung mit Proudhons „Philosophie des Elends“ die materialistisch gewendete Dialektik im Gegensatz zur idealistischen Kategoriendialektik Proudhons. Die literaturgeschichtliche Darstellung der Probleme der Nationalökonomie von ihrer „klassischen“ Begründung an, zeigt sich als Problemgeschichte der antagonistischen Gesellschaft.
Ohne der ketzerischen These von Korsch aus dem Jahre 1950, daß Marx „heute nur einer unter vielen Vorläufern, Begründern und Weiterentwicklern der sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse ist“, vollständig zuzustimmen, scheint uns Korsch darin ganz recht zu haben, daß die historischen Alternativen und „Weiterentwicklungen“ der Marxschen Formung des Sozialismus, als die Beiträge der utopischen Sozialisten, die von Proudhon, Blaqui, Bakunin, den deutschen Revisionisten, französischen Syndikalisten und russischen Bolschewisten (inzwischen dürften neue Namen hinzugekommen sein) bei der Neubegründung einer revolutionären Theorie und Praxis für die hochkapitalistischen Länder aufgearbeitet werden müssen und zwar nicht als Vorläufer von Marx und nicht als Abweichler und Verräter der „reinen Lehre“, sondern als ambivalente Antworten auf die jeweiligen Veränderungen der geschichtlichen Wirklichkeit; besonders gilt das für die nachmarxsche Zeit. Die ungeheure Größe des Marxschen Werkes verunmöglicht noch immer eine schöpferische Betrachtung und Aneignung dieser „nichtmarxistischen“ Beiträge. An den die I. Internationale sprengenden Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin werden wir das später verdeutlichen.
Das „Kommunistische Manifest“ (1848) nun ist Abschluß und Höhepunkt der 1. Periode in der Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus. Für die schon angeschnittene Problematik des Marxschen Klassenbegriffes ist der im Manifest auftauchende Begriff des „Lagers“ von hohem Interesse: „Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat“ (K. Marx, F. Engels. Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 24, Berlin 1960)
Die in „Kapital III“ besonders aufgezeigte Beseitigung der fungierenden und produktiven Kapitalistenklasse durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, geht so über diesen spezifischen Klassengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat hinaus, die „Epoche der Bourgeoisie“ hat ihr Ende gefunden. Die unkritische Benutzung dieses bei Marx auf die Aktualität der Revolution bezogenen Begriffs des Lagers durch die herrschende Ideologie des „sozialistischen Lagers“ kaschiert diesen Tatbestand nicht wenig. Der kritische Begriff des Lagers scheint uns mit Mauke jenen gesellschaftlichen Zustand anzudeuten, in dem die ganze Gesellschaft zu einem einzigen „Lohnarbeiter“ geworden ist, eine unbeherrschte und verselbständigte Produktionsmaschinerie im totalen Gegensatz zur lebendigen Arbeit sich etabliert hat. Die Entwicklung der Produktivkräfte, die dialektische Identität des ökonomischen und politischen Prozesses in den 40iger Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten die Grundlage für diese historisch spezifischen, aber nicht in der Zeitbedingtheit aufgehenden Aussagen des Kommunistischen Manifestes. Die nach der Niederlage der Revolution von 1848 einsetzende Restaurierung des gesellschaftlichen Lebens führte zu einem Verfall der Organisationen und der Kampfkraft der Arbeiterbewegung.
Über die revolutionären Bewegungen der 30iger und 40iger Jahre und über die Zeit der Reaktion nach 1848 informiert sehr genau A. Braunthal in seiner „Geschichte der Internationale“ (Bd. I, Hannover 1961, S. 54-97); die ausführlichen bibliographischen Anmerkungen ermöglichen einen ausgezeichneten Einstieg in die für die Ausbildung der Marxschen Theorie entscheidenden Zeitabschnitte. Gut ausgewählte Auszüge der bedeutendsten Schriften der nichtmarxistischen Sozialisten und Kommunisten dieser Zeit (St. Simon, Cabet, Lammenais, A. Blanqui, J. P. Proudhon, W. Thompson, W. Weitling u. a. m.) gibt der Bd. II der von K. Diehl und P. Mombert herausgegebenen Reihe „Ausgewählte Lesestücke zum Studium der politischen Ökonomie“, der Band „Sozialismus – Kommunismus –Anarchismus“ Jena 1920. Diese bisher einzigartige deutsche Textreihe ist überhaupt sehr zu empfehlen, werden in ihr doch alle Gebiete der politischen Ökonomie in 20 Bänden historisch-literaturgeschichtlich nachgewiesen.
W. Hofmanns „Sozioökonomische Studientexte“ (Bd. I: Wert- und Preislehre, Berlin 1964, Bd. II Einkommenstheorie. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, Berlin 1965, Bd. III: Theorie der Wirtschaftsentwicklung. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, Berlin 1966) bilden für den engeren Bereich der früheren und neueren Wirtschaftstheorie eine ausgezeichnete Fortsetzung der Diehl-Mombertschen „Lesestücke“.
In der Mitte der 50iger Jahre des 19. Jahrhunderts begannen sich das Proletariat und seine Organisationen von der Zeit der Reaktion langsam zu erholen. In England breitete sich die Streikbewegung aus und der Gedanke einer internationalen Assoziation der Arbeiterklasse, der sich schon einmal vor 1848 gestellt hatte, wurde erneut in den Mittelpunkt der Diskussionen gestellt. Das Ende 1854 entstehende „Internationale Komitee“ entfaltete in London unter den Gewerkschaftsvereinigungen und in den Emigrantenorganisationen eine rege Tätigkeit, die 1856 in einem Manifest, das sich an „alle Nationen wendete“ (People’s Paper, 9.5.1856), kulminierte: „Wir wollen nicht schließen, ohne euch einen Plan vorzuschlagen, dessen Verwirklichung wir für die Fortsetzung der Wirksamkeit unseres Bundes als unentbehrlich betrachten. Dieser Plan besteht in der Erweiterung des Internationalen Komitees, das sonst durch seine kleine Mitgliedschaft und Armut fast zur Ohnmacht verurteilt ist, zu einer Internationalen Assoziation, die Männern aller Länder offen stehen und nicht ein Internationales Komitee in einer Stadt Europas, sondern Internationale Komitees in einer möglichst großen Anzahl von Städten zahlen soll.“ Dieses zitierte Dokument, viele andere und eine detaillierte Beschreibung der Versuche der Realisierung einer internationalen Arbeiterorganisation finden sich in Th. Rothsteins Büchlein „Aus der Vorgeschichte der Internationale“, als 17. Ergänzungsheft der „Neuen Zeit“, Stuttgart 1913 erschienen. Die direkte Fortsetzung der Rothsteinschen Arbeit, die 1859 ihre Darstellung beendet, ist die bis heute unerreichte Arbeit von D. B. Rjazanov „Zur Geschichte der ersten Internationale“, in deutscher Sprache zugänglich im Bd. I des von Rjazanov herausgegebenen Marx-Engels-Archivs, Frankfurt am Main 1925, S. 119-202. Der vom Stalinismus liquidierte erste und bedeutendste Marxforscher zeigt in einer konkret-materialistischen Analyse die ökonomischen Bewegungsformen des Kampfes der englischen Arbeiterklasse und die davon getragenen und wesentlich bestimmten Versuche der politischen Organisierung des ökonomischen Kampfes.
Die nächste Phase in der Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung ist die der Tätigkeit der I. Internationale vom 1864-1872, die Zeit der Auseinadersetzung zwischen Marxismus und Anarchismus, zwischen Marx und Bakunin.
Aus der sehr zahlreichen Literatur über diese Zeit ragt neben der schon erwähnten Arbeit von J. Braunthal der II. Band der von G. D. H. Cole verfaßten Geschichte des sozialistischen Denkens, „A History of Socialist Thought-Marxism and Anarchism 1850-1890“, London 1961, heraus.
F. Brupbachers „Marx und Bakunin - ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation“, Berlin 1922, E. H. Carrs große Bakuninbiographie „Michael Bakunin“, London 1937 (1961 als Vintage-Taschenbuch in New York), die großen Arbeiten M. Nettlaus über Bakunin und den Anarchismus, wie die nur in wenigen Exemplaren zugänglichen Monumentalbiographie (3 Bde., 1896-1900), „Der Vorfrühling der Anarchie“, Berlin 1925, „Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin“, Berlin 1927 und die durch ihren Versuch, Marxismus und Anarchismus zu „versöhnen“, besonders interessante kleine Schrift von E. Malatesta, What is Anarchy?, London, o. b. J. wären weiterhin zu nennen.
Die Werke Bakunins sind ab 1921 unvollständig […] Berlin erschienen.
Kann der Anarchismus nun eigentlich für uns noch etwas bedeuten, ist er nicht durch Marx für alle Zeiten widerlegt worden? W. Hofmann schreibt in seiner jedem Genossen als Pflichtlektüre zu empfehlenden Buch „Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts“, Sammlung Göschen Bd,. 1205/1205a, Berlin 1962: „Bestimmte Durchgangsstufen des Denkens scheint die Ideengeschichte der europäischen Sozialbewegung, gewissermaßen stellvertretend für die Spätkommenden, hinter sich gebracht zu haben: Utopischer Kommunismus, religiöser Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus werden wohl kaum noch einmal eine geistesgeschichtliche Bedeutung haben – so sehr der letzte die Praxis einer anhebenden Sozialbewegung, etwa in Südamerika, für eine Weile noch beeinflussen mag“ (S. 226 u. 227). Ist damit nicht alles gesagt? Wir glauben das nicht, denn in einer Zeit der sich verstärkenden und sich verselbständigenden zentralisierten Staatsbürokratien scheint uns die bei Bakunin im Mittelpunkt der Theorie und Praxis stehende Frage der Abschaffung des Staates, der unmittelbaren Beseitigung desselben, der erneuten Aufarbeitung durchaus wert.
Ist das „Absterben“ des Staates zentraler Gegenstand der „Zieldiskussion“ bei Marx und im Marxismus, so folgte doch bei Marx der ersten Fassung der Revolutionstheorie, die von der Identität der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und der sozialen Revolution ausging, die für uns sehr fragwürdige Konzeption einer „Zwei-Phasen-Theorie der kommunistischen Revolution“, die die wirkliche Emanzipation der Arbeiterklasse in die Zukunft verlegte, die Eroberung des bürgerlichen Staates durch das Proletariat als primär für die soziale Revolution ansah. (s. K. Korsch, 10 Thesen über Marxismus heute, in: alternative, April 1965, S. 89/90).
Diese Etappentheorie, die in der Phase der für die Beseitigung des Mangels und der Notdurft notwendigen Entfaltung der Produktivkräfte durch die bürgerliche Gesellschaft alles für sich hatte, den „Sieg“ von Marx über Bakunin historisch rechtfertigte, kann für unsere Zeit, in der bei uns in den Metropolen der Kapitalismus auch nicht mehr einen einzigen Funken temporärer Notwendigkeit in sich hat, kaum noch Bedeutung haben.
Die Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin anläßlich der Pariser Kommune, die die nächste Objektivierung des kämpfenden Proletariats bildete, werden von K. Korsch in seinem Beitrag „Revolutionäre Kommune“, in: Aktion (Pfemfert), Vol. 21 (1931), S. 60-64 beschrieben.
Die Bedeutung des Marxschen Kommunemodells für die sozialistische Theorie, für die Entwicklung des Bolschewismus und Sowjetmarxismus, ist in der Dissertation des Gen. K. Meschkat, „Die Pariser Kommune im Spiegel der sowjetischen Geschichtsschreibung“, Berlin 1964 systematisch herausgearbeitet worden. Ein spezielles Kapitel über Bakunin und die Pariser Kommune trägt zur Klärung des Verhältnisses von Marxismus und Anarchismus bei.
Der im wesentlichen durch den Fraktionskampf zwischen „Bakunisten“ und „Marxisten“ entstandene Spaltungsprozeß der I. Internationale, bedeutete für Marx persönlich nicht die Beendigung des theoretischen Streites. 1926 wurden von Rjazanov in der russischen Zeitschrift „Letopisi Marksisma“ (Annalen des Marxismus) die Randbemerkungen Marxens zu der nach dem Bruch erschienenen und wohl bedeutendsten Bakunin-Schrift, „Gosudarstvennosti i Anarkhiia“ (Staatlichkeit und Anarchie) erstmalig veröffentlicht, die recht deutlich den tiefen und dauernden Einfluß Bakunins auf Marx zeigten. (s. MEW, Bd. 18, S. 599-642).
Die Spaltung der I. Internationale im Jahre 1872 bildete einen erneuten Rückschlag für die Emanzipationsbestrebungen der unterdrückten Klassen, stellte den Beginn des durch Krankheit beschleunigten Rückzugs Marxens von der politischorganisatorischen Arbeit dar, kennzeichnete den Beginn einer sich jenseits von Marx und Engels „ansiedelnden“ Interpretation des Marxismus durch die „Marxisten“.
Über die erste Periode der Rezeption des Marxismus durch die deutsche Sozialdemokratie, die Marx und Engels bei aller Kritik immer als „unsere Partei“ bezeichneten, unterrichtet in sehr kritisch-instruktiver Organisation des Materials G. Brandis in seinem Buch „Die deutsche Sozialdemokratie bis zum Fall des Sozialistengesetzes“, Leipzig 1931, worin er die schon in dieser Frühzeit des politischen Marxismus sichtbar werdende „ideologische“ Rezeption nachzuweisen versucht.
E. H. Posses Buch, „Der Marxismus in Frankreich 1871-1905“, Berlin 1932 hat diesen Vorgang der Rezeption und Ausbreitung des Marxismus am Beispiel des Guesdismus demonstriert, wobei besonders wichtig ist, daß der „marxistische“ Sieg Guesde’s über die Reformisten und Zentralisten auf dem Pariser Einigungskongreß 1905 zu einer Zeit erfolgte, als der Marxismus dieses Flügels der französischen Arbeiterbewegung sich schon zu „erfolgreicher Erziehungsarbeit“ verdünnt hatte.
Diese Bücher von Brandis und Posse können auch mithelfen, den so „glanzvollen“ Sieg der Marxisten in der internationalen „Bernsteindebatte“ und den so „schmachvollen“ Verrat in der Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges begreifbar werden lassen.
Über die Verbreitung des Marxismus in Rußland liegt uns in deutscher Sprach kein gutes Buch vor. Vorovski’s, V., „K istorii marksisma v Rossii“ (Zur Geschichte des Marxismus in Rußland), Moskau 1923 ist nicht in deutscher Übersetzung erschienen. Über die Intensität der Rezeption in den 70iger und 80iger Jahren kann kein Zweifel bestehen, wovon nicht zuletzt das Marxsche Nachwort zur 2. A. von Kapitel I 1873 zeugt.
Schon 1865 begann P. Tkacev mit einer Rezension des Marxbuches „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) in der Zeitschrift „Das russische Wort“ eine ausgedehnte Diskussion der Marxschen Theorien.
S. H. Barons Plechanowbiographie, „Plaechanow, the Father of Russian Maxism“, London 1963 bestätigt diesen Sachverhalt nachdrücklich.
Um die geschichtsmächtigste Marxrezeption in Rußland, als die Leninsche kennenzulernen, ist es unerläßlich, besonders die 1. Folge des Buches „Was sind die ‚Volksfreunde [sic!] und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, die Lenin-Antwort an N. Michailowski aus dem Jahre 1894 zu lesen. (s. Bd. I der Werke, Berlin 1963, S. 123-196).
Sehr viel theoretisch undurchdrungenes Material bringen auch für diesen Zeitraum die Bücher von W. B. Scharlau/Z. A. Zeman, „Freibeuter der Revolution – Parvus-Helphand“, Köln 1964 und die zweibändige Luxemburgbiographie von P. Nettl, „Rosa Luxemburg“, London 1966.
A. Labriola Schrift, „Zum Gedächtnis des Kommunistischen Manifestes“ (1895), in deutscher Sprache mit einer Einleitung von F. Mehring 1909 in Leipzig erschienen, kann als Vergleichsschrift zu der Leninschen dienen – in beiden Fällen eine kritisch-positive Rezeption des Marxschen Werkes. Bei Labriola fanden wir den für die Frage der Organisierung der revolutionären Kräfte interessanten Hinweis: „In den 50 Jahren, die uns von der Veröffentlichung des Manifestes trennen, ist die Spezialisierung und die verwickelte Zusammensetzung der proletarischen Bewegung so groß, [sic!] geworden, daß es fortan keinen Geist mehr gibt, der fähig wäre, sie in ihrer Gesamtheit zu umfassen und sie in ihren Einzelheiten zu verstehen, der ihre wahren Ursachen und ihre richtigen Beziehungen verstünde“ (Seit 24) – ein für unsere gegenwärtige Arbeit weiterhin ungelöstes Problem; die Notwendigkeit der kollektiven theoretischen Arbeit und Zusammenarbeit zeigt sich für uns heute noch eindeutiger als für Labriola.
Die schon erwähnte „Bernsteindebatte“ um 1900, die bis zur Russischen Revolution von 1905 der Zentralgegenstand der sozialistischen Diskussion war, wurde von E. Rikli in „Der Revisionismus der deutschen marxistischen Theorie (1890-1914)“, Zürich 1936, ausführlich vorgeführt. Um dieses Phänomen genauer verstehen zu können, sollte unbedingt „Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit K. Kautsky“, Leipzig 1929 von K. Korsch herangezogen werden.
Die erste russische Revolution von 1905 und die damit verbundene Massenstreikdebatte in Deutschland und in Rußland (1906/1911) stellten den nächsten Prozeßpunkt des politischen Marxismus dar. Neben den bereits genannten Biographien über Parvus und Luxemburg sind für die Geschichte und theoretische Analyse der russischen Revolution von 1905 die Bände 8 und 9 der Lenin-Werke, Berlin 1960, das Trotzki-Buch „Die Russische Revolution 1905“, Berlin 1923, und die für die Dialektik von Reform und Revolution so wichtige Broschüre von R. Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906) (in: R.L., Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, S. 157-257, Berlin 1955) zu nennen, hierzu besonders der Luxemburg-Beitrag, der gleichermaßen einen Beitrag zur deutschen Generalstreiksdebatte war, die nach den russischen Ereignissen sehr radikalisiert begann. Unter den Beiträgen sind die Bücher von H. R. Holst, „Generalstreik und Sozialdemokratie“, Dresden 1906, von Parvus, „Der Klassenkampf des Proletariats“, Berlin 1911 u. die die Gesamtdiskussion zusammenfassende Darstellung von K. Kautsky, „Der politische Massenstreik“, Berlin 1914 hervorzuheben. Über den Einfluß der russischen Kämpfe von 1905 auf die deutsche Sozialdemokratie gibt die größere Studie von C. E. Schorske, „German Social Democracy 1905-1917“, in: Harvard Historical Studies, Vol, LXV (1955) ausgezeichneten Aufschluß.
In diese Zeit fallen die für die Revolutionstheorie und praktische Politik des Marxismus folgenreichen Publikationen über die „Theorie der permanenten Revolution“ von Parvus und Trotzki. Der Terminus fand sich an verschiedenen Stellen des Marxschen Werkes, gewann aber für Parvus und Trotzki durch die von ihnen durchgeführte Analyse des den Nationalstaat beseitigenden Weltmarktes, unter den spezifischen Bedingungen Rußlands, einen völlig neuen Stellenwert. Darüber findet sich manches in der Biographie über Parvus (s. o.), findet sich recht viel über die gemeinsame Ausarbeitung der Theorie durch Trotzki und Parvus in der hervorragenden Trotzki-Biographie von I. Deutscher, „Der bewaffnete Prophet 1879-1921“, Stuttgart 1962, S. 103 ff.
Neben der „Permanenten Revolution“, Berlin 1930 (Neudruck im NK-Verlag, Frankfurt am Main 1965) drückte Trotzki seine Theorie in der um 1905 geschriebenen Aufsatzsammlung „Perspektiven und Resultate“ exakt aus. 1919 in russischer Sprache, 1921 in englischer Sprache, 1965 in New York ediert, wird sie hoffentlich bald im NK-Verlag erscheinen. Diese Aufsätze sind Antworten auf die in der russischen Sozialdemokratie geführte Diskussion über den Charakter und die Triebkräfte der russischen Revolution. Der Hauptgedanke ist der unmittelbar nach der Machtergreifung des Proletariats zu vollziehende Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution, um mit Hilfe der proletarischen Diktatur die Aufgaben der verspäteten bürgerlichen Revolution zu lösen. Hier sehen wir deutsch die bolschewistische Weiterentwicklung der Marxschen Theorie einer Zwei-Phasen-Revolution, wie sie weiter oben angedeutet wurde. In dieser Form kam sie mit großen Formationsunterschieden in China und in Kuba zur Geltung, ist sie revolutionäre Theorie und Ideologie, die als marxistischer Sozialismus in den Dienst von verschiedenen Zielsetzungen gestellt wurde (s. K. Korsch, 10 Thesen […], s. o.).
Den größten Einschnitt in die sozialistische Bewegung stellte der Zusammenbruch des proletarischen Internationalismus zu Beginn des 1. Weltkrieges dar. Der von der internationalen Linken (von Lenin bis Luxemburg) als „Verrat der Führer“ bezeichnete Sachverhalt des nationalen Chauvinismus in großen Teilen des europäischen Proletariats, dürfte zwar kaum den Mittelpunkt dieser Erscheinung treffen, darf auf der anderen Seit aber auch nicht unterschätzt werden. Über diese Zeit legen die Kampfaufsätze von Lenin-Sinowjew, „Gegen den Strom. Aufsätze aus den Jahren 1914-1916“, Hamburg 1921, leidenschaftlich Zeugnis ab. In diesem Sammelband finden sich schon die relevantesten polit-ökonomischen Untersuchungen über den Zusammenhang von Reformismus und Imperialismus, über Krieg und Revolution. Das in „Sklavensprache“ (Lenin) wegen der notwendigen Zensurrücksichten im Frühjahr 1916 in Zürich geschriebene und als Imperialismustheorie epochemachende Werk, Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus (1917), Berlin 1926, will Lenin in den Zusammenhang dieser anderen Arbeit gestellt wissen, was er im Vorwort zur russischen Ausgabe 1917 ausdrücklich betont.
Das Buch von J. Humbert-Droz, Der Krieg und die Internationale, Wien 1964, entfaltet auf der Grundlage einer umfassenden Quellenkenntnis ein packendes Bild vom Juli 1914, in dem sich das Schicksal der II. Internationale entschied. Der ehemalige Sekretär der Komintern in den 20iger Jahren beschreibt dann die erst tastenden, dann aber immer virulenter werdenden Versuche der Neuaufrichtung einr [sic!] antimilitaristischen und internationalen Organisation durch die Linken der verschiedenen Länder. Zimmerwald und Kienthal und die Bedeutung dieser Konferenzen für die späteren Organisationsformen der internationalen Arbeiterklassen bilden den Abschluß des Buches.
Über den antimilitaristisch-propagandistischen Kampf in Deutschland während des 1. Weltkriegs informiert dokumentarisch das zu Unrecht etwas vergessene Buch von E. Drahn und S. Leonhardt (!), Unterirdische Literatur im revolutionären Deutschland während des Weltkrieges, Berlin 1920.
Die Leninsche Losung von der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg setzte sich zuerst in Rußland mit der Februarrevolution 1917 durch und erreichte ihren Höhepunkt in der Verwirklichung der bolschewistischen Diktatur der Avantgarde im Oktober 1917. Zwischen Februar und Oktober haben sich aber in Rußland für die Weiterentwicklung der sozialistischen Theorie ganz außerordentliche Dinge abgespielt, die durch das stalinistische Bild der „eisernen Partei“ und ihrer Beherrschung durch den „großen Lenin“ bis heute nicht so recht sichtbar wurden, wovon aber Lenins „Staat und Revolution“ (1917) nicht zu trennen ist. Was wir meinen, ist der durch die Arbeit von R. Lorenz, Anfänge der bolschewistischen Industriepolitik, Köln 1965 sichtbar gewordene Weg proletarischer Fabrikkomitees in den städtischen Großbetrieben, die nach dem Februar eine spontane und von der provisorischen Regierung nicht gebilligte Nationalisierung durchführten, die nicht von den Bolschewiki bestimmt wurden, sondern denen sich die Bolschewiki im Laufe des Sommers 1917anpaßten. Die Anpassung an diese bestimmende Kräfte der Revolution ging zuerst von Lenin aus, der diese nicht erwartete Spontaneität der proletarischen Fabrikkomitees in der ersten Zeit begeistert unterstützte, geradezu die später innerhalb der Komitern so verdammte Luxemburgische Spontaneitätstheorie praktizierte, wovon im Bd. 26 der Gesammelten Werke, Berlin 1961, viele Beispiele zu finden sind, wovon „Staat und Revolution“ gekennzeichnet ist. Die von den „linken Kommunisten“ (Ossinski, Bucharin) als Konzeption angebotene Errichtung eines ökonomischen Rätesystems parallel dem politischen, das die Verbindung von proletarischer Initiative und zentral ökonomischer Autorität ermöglichen sollte, wurde von Lenin als unrealistisch abgelehnt. Er konnte sich erst nach langem Kampf – die Partei der Bolschewiki war in dieser Zeit alles andere als monolythisch – schließlich durchsetzen und ab März 1918 (Brest-Litowsk-Vertrag mit den deutschen Invasoren) orientierten sich die Bolschewiki unkritisch am Bild der während des Krieges in Deutschland praktizierten Form der staatskapitalistischen Zentralwirtschaft.
Für die sozialistische Theorie gibt es bei der Frage des Scheiterns der Fabrikkomitees folgendes zu bedenken: das spontane revolutionär-syndikalistische Bewußtsein erwies sich als unfähig, von sich aus das betriebliche in ein gesamtgesellschaftliches Bewußtsein zu transzendieren, war auch nicht in der Lage, die darniederliegende Produktion wiederaufzurichten. Die Wichtigkeit dieses Problems klingt auch in der Frage von B. Brecht an K. Korsch an: „Ich würde mir viel von einer historischen Untersuchung der Verhältnisse der Räte zu den Parteien, dieses ganzen komplizierten Prozesse versprechen, die spezifischen Gründen des Unterliegens der Räte, die historischen Gründe, würden mich ungeheuer interessieren. Das ist ungeheuer wichtig für uns, denken Sie nicht?“ (in: Alternative, s. o., S. 99) Ob sich der „neuen Arbeiterklasse“ der Gegenwart dieses Problem nicht mehr oder anders stellt, sei dahingestellt. Empirisches Material über die Rätebewegung in Rußland findet sich in der „Geschichte der russischen Revolution“ von L. Trotzki, Berlin 1960, in der großen Studie von O. Anweiler, Die Räte in Rußland, 1905-1921, Leiden 1958, für das Problem der deutschen Räte in der „mißgeglückten“ Revolution von 1918 liegt die Schrift von W. Tormin, Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie, Düsseldorf 1954, und die sehr umfangreichen Studien von P. v. Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution 1918, IG-Metall-Veröffentlichung 1964 vor. Die Rätefrage „überhaupt“ behandelt L. Tschudi in seiner Dissertation, Kritische Grundlegung der Idee der direkten Rätedemokratie im Marxismus, Basel 1952. Die Voraussetzungen, der Ablauf und die Resultate der Prozesse der „Revolution“ in Deutschland werden in A. Rosenbergs, „Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik“, Frankfurt a. Main 1955, eindringlich nachgewiesen. Den Versuch einer begrifflichen Grundlegung des Sozialisierungsgedankens, um der für den Aufbau des Sozialismus nichtssagenden Formel der „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ zu entgehen, unternimmt F. Weil in seiner auf Korsch basierenden Schrift, Sozialisierung, Berlin 1921.
Der Weg der Komintern wird im Bd. 2 der oft herangezogenen Braunthalschen „Geschichte der Internationale“ gut nachvollziehbar. Wesentlich spannender, aber teilweise auf nicht nachprüfbaren Dokumenten ehemaliger Kominternmitarbeiter aufgebaut, ist das von J. Rindl und J. Gumperz unter dem Pseudonym Ypsilon verfaßte Buch, Pattern for World-Revolution, Chicago New York 1947. Zur speziellen „Bolschewisierung“ des deutschen Spartacus-Bundes ist die Arbeit des ehemaligen Jungkommunisten R. Loewenthal, The Bolschevisation of the Spartacus League, in: D. Footman (Hrsg.), London 1960, S. 23-71, heranzuziehen. Der bibliographische Beitrag von E. Coletti, Die KPD 1918-1933, Mailand 1961 ermöglicht einen umfassenden Einstieg in die Geschichte des deutschen Kommunismus.
Die Schriften von K. Korsch, Marxismus und Philosophie, Leipzig 1923 (2. Auflage 1930 mit neuer Standortbestimmung des von der KPD ausgeschlossenen K.) und von G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923 sind die einzigen niveauvollen Versuche marxistischer Philosophen innerhalb der KP gewesen, in der Form „theoretischer Aktionen“, die in der Organisation der Komintern und im Proletariat sichtbar werdenden Prozesse der Verdinglichung und Pragmatisierung der Marxschen Theorie entgegenzutreten.
Der nicht uninteressante Versuch A. Thalheimers (bis 1928 Mitglied der KPD), durch einen Rückgriff auf die Marxsche Bonapartismustheorie, den heraufziehenden deutschen Faschismus theoretisch für die Praxis in den Griff zu bekommen, konnte aber auch nicht über theoretische „Flaute“ und praktische Wirkungslosigkeit der linken Kräfte außerhalb der KPD hinwegtäuschen. Die detaillierten Untersuchungen von K. H. Tjaden über die „Struktur und Funktionen der ‚KPD-Oppostion’ (KPO)“, Meisheim 1965 und die von H. Drechsler über „Die Sozialistische Arbeiterpartei (SAPD) [sic!], Meisenheim 1965 geben darüber sehr genaue Auskunft. Erst in der Emigration sind ernsthafte und tiefe Analysen über die „Revolution von rechts“, über den Faschismus entstanden, seiht man von dem originellen Versuch der religiösen Sozialisten P. Tillich in dem Buch „Die Sozialistische Entscheidung“, Potsdam 1933 einmal ab.
Von den Faschismusarbeiten in der Emigration ist besonders die von P. Sering (d. i. R. Loewenthal) in der Zeitschrift für Sozialismus Nr. 24/25; 26/27, Graphia-Karlsbad aus dem Jahre 1935 zu nennen. In diesem Aufsatz wird auf die wachsenden Kosten für den Verteilungs- und Verwaltungsapparat, auf die den Subventionsstaat immer stärker belastenden faux frais (toten Kosten) hingewiesen. Durch die vom Staat ausgehaltenen unproduktiven Schichten treten neue Tendenzen in der Klassendynamik auf, die das traditionelle Schema von Lohnarbeit und Kapital nicht mehr erfassen kann. Die Unentbehrlichkeit der Produktionsintelligenz für die Reproduktion des Systems wird immer größer, die Entbehrlichkeit der herrschenden Klasse wird auch immer vollständiger. Da die sozialistische Arbeiterbewegung unfähig war, die Wirtschaftskrise sozialistisch zu gestalten, wurde sie zum Objekt der Krise, wurde die „Volksgemeinschaft des Bankrotts“, die in allen Schichten und Klassen zu finden war, immer mehr die bestimmende Kraft der Gesellschaft:
Die typischen Resultate des Faschismus waren:
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„eine neue höhere Form der staatlichen Organisation;
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eine neue reaktionäre Form gesellschaftlicher Organisation;
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eine wachsende Hemmung der ökonomischen Entwicklung durch reaktionäre Kräfte, die sich der Staatsmacht bemächtigt haben“ (S. 787).
Trotzkis, Verratene Revolution (1937), Zürich 1957, mit der These von der gemeinsamen Ursache für die historisch-inhaltlich verschiedenen Phänomene Stalinismus und Faschismus, nämlich die Ursache der Niederlage der mitteleuropäischen Arbeiterbewegung in den 20iger Jahren, zog primär Bilanz des 1. sowjetischen Fünfjahresplans und der Prozeßwelle gegen die „trotzkistische“ Opposition.
Eine philosophisch glänzende und historisch-soziologisch unvollständige Beschreibung der Entwicklung des Marxismus innerhalb der Dynamik des Prozesses der sowjetischen Gesellschaft von der Phase der ursprünglichen Akkumulation bis zur gegenwärtigen entfalteten „Industriegesellschaft“, ist im Buche von H. Marcuse, Sowjetmarxismus, Soziologische Texte, Bd. 22, Berlin-Neuwied 1964 zu finden.
In der Zeit des Sieges von Stalinismus und Faschismus „verlagerte“ sich das revolutionäre Zentrum immer mehr in die durch Kolonialherrschaft ökonomisch zurückgehaltenen Länder, begann der Prozeß des revolutionären Volkskrieges in China, wovon die inzwischen berühmt gewordenen Bücher von E. Snow, Red Star over China, New York 1937 und A. Smedley, Red China Marches, New York 1934 erste Kenntnis dieser Geschehnisse in den „ungläubigen“ und überraschten Westen brachten. Die lesbare Mao-Biographie von R. Payne, Hamburg 1965, die Dokumentararbeit von R. R. Bowie, J. K. Fairbank, Communist China 1955-1959, Cambrigde/M. 1962 ermöglichen einen Zugang zur jüngsten chinesischen Geschichte. Die polit-ökonomische Grundlagen-Studie für die „dritte Welt“ (koloniale Welt) ist das äußerst wichtige Werk von P. Baran, Polical economy of Growth, New York 1960. Zur allgemeinen Problematik der Revolution in der „dritten Welt“ nimmt am Beispiel Vietnams der Gen. Steinhaus in seiner Schrift, Vietnam – Zum Problem der kolonialen Revolution und Konterrevolution, Frankfurt am Main 1966, Stellung. Die Geschichte des Befreiungskampfes des vietnamesischen Volkes steht bei der Schrift der Gen. Horlemann und Gäng, die gerade in der edition suhrkamp erschien, im Mittelpunkt.
Die bedeutendsten Theoretiker der kolonialen Revolution, Che Guevara, Der Partisanenkrieg, Berlin 1962; Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main 1962 und Mao Tse-tung, Theorie des Guerillakrieges – mit einem einleitenden Essay von S. Haffner, Hamburg 1966 – liegen nun endlich in billigen Ausgaben in deutscher Sprache vor. Mit der kritischen Analyse des westeuropäischen „Spätkapitalismus“ sieht es sehr viel schlechter aus. Der von Natalie Moszkowska in der „Dynamik des Spätkapitalismus“, Zürich 1943, unternommene Versuch, über die Analyse der „toten Kosten“ (faux frais) der kapitalistischen Produktion (Rüstung und Krieg, unausgenutzte Kapazitäten, strukturelle Arbeitslosigkeit, Kosten der Unterhaltung der unproduktiven Schichten – Subventionen, künstliche Erzeugung überdimensionaler Bürokraten und Verteilungsapparate) den „niedergehenden“ Kapitalismus analytisch in den Griff zu bekommen, ist bisher nicht weitergeführt und entwickelt worden. Das gilt auch für die theoretischen Ansätze, die in der von M. Horkheimer herausgegebenen „Zeitschrift für Sozialforschung“ (1932 – 1938) sowohl durch K. Mandelbaum, Baumann, F. Weil, H. Grossmann, F. Pollock u. a. für die polit-ökonomische Analyse der Transformation der kapitalistischen Gesellschaft in den Sozialismus erarbeitet wurden, als auch für die zwar mit den ökonomischen Arbeiten kaum vermittelten, dennoch für eine Neubegründung einer revolutionären Theorie und Praxis unserer Zeit unerläßlichen damaligen Arbeiten von M. Horkheimer und H. Marcuse; die nach dem 2. Weltkrieg von Adorno und Horkheimer als den Hauptvertretern der „Frankfurter Schule“ des Instituts für Sozialforschung veröffentlichten ideologiekritischen Arbeiten sind so sehr bekannt, daß sich eine bibliographische Aufzählung und Kommentierung erübrigt. Die Zerstörung der organisierten Arbeiterbewegung durch den Faschismus und die Korrumpierung des deutschen und internationalen Kommunismus durch den Stalinismus, die Reorganisation und Rekonstruktion des Kapitalismus durch zu nehmende staatsinterventionistische Regulierung der ehemals naturwüchsigen und anarchischen Produktion u. a. m. begründeten die qualitativ neue Form der kapitalistischen Gesellschaft, die mit der revolutionär-antagonistischen Klassengesellschaft nicht gleichgesetzt werden darf.
Über die Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise durch die Entstehung des Monopolkapitalismus bzw. des Staatsmonopolismus unterrichtet W. Hofmann „ […] Säkulare Inflation“, Berlin 1962, worin allerdings die politisch-soziologischen Konsequenzen der ökonomischen Analyse fehlen. Politische Konsequenzen in der Kontinuität der traditionellen Arbeiterbewegung versucht der belgische Gen. E. Mandel, allerdings auf einer von Hofmann sehr abweichenden polit-ökonomischen Grundlage (konjunkturtheoretisch orientiert und auf die problematische Kondratieffsche „Theorie der langen Wellen“ zurückgreifend) in seinem Beitrag „Westeuropäische Arbeiterbewegung im Neokapitalismus“ zu ziehen; abgedruckt in der für die SDS-Diskussion über politische Praxis heute sehr anregenden Broschüre, „Neokapitalismus, Rüstungswirtschaft, westeuropäische Arbeiterbewegung“, Verlag neue kritik, Probleme sozialistischer Politik 1; Frankfurt am Main 1966.
Ist die These des Gen. Mandel, daß der westeuropäische Neokapitalismus sich tendenziell dem amerikanischen annähert, richtig, so wird die Rezeption des unserer Ansicht bedeutendsten theoretischen polit-ökonomischen Beitrags seit dem Ende des 2. Weltkriegs, dem Buch „Monopoly Capitalism“ (for Che Guevara), New York 1966 von P. Baran und P. Sweezy, für die Diskussion über die sozio-ökonomische Grundlage unserer praktisch-politischen Perspektive von Wichtigkeit. Baran und Sweezy scheuen sich in ihrem Buch nicht, für die politische Strategie des revolutionären Kampfes in Amerika radikal materialistisch begründete Folgerungen aus der durch die Entfaltung der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung total veränderten Stellung der produktiven industriellen Arbeiterschaft innerhalb des kapitalistischen Gesamtsystems zu ziehen: Die Industriearbeiterklasse ist in hohem Maße systemintegriert, ganz zu schweigen von ihren Gewerkschaften. Nur die sehr heterogenen Gruppen der „Outcasts“ ob nun Farmarbeiter oder Ghettobewohner und die farbigen nationalen Minderheiten stellen die radikale Negation des Systems dar.
Die Chancen der revolutionären Aktion sind gering, aber der repressive Druck des Systems auf die Individuen verstärkt sich, was in der rapiden Zunahme psychophysischer Krankheiten zu bemerken ist, die tendenziell das Funktionieren des Systems in Frage stellen.
Die Politisierung eines Teils der akademischen Jugend, Teile der Arbeitslosen und der Neger durch die sozialen Probleme Amerikas und durch die wachsende politisch-existentielle Bedeutung des Vietnamkrieges für die amerikanischen Wirklichkeit, werden als weitere Momente der gegenwärtigen radikalen Systemkritik genannt. Zur Frage der nicht mehr auflösbaren Integration der amerikanischen Gewerkschaften und der Möglichkeit der politischen Organisierung der Arbeitslosen im Prozeß des Kampfes gegen das anachronistische Vollbeschäftigungsmodell der kapitalistischen Regierung, für die Abschaffung der repressiven Arbeit im Prozeß der Automatisierung des Produktions- und Verteilungsprozesses finden sich viele Hinweise in den Büchern von J. Boggs, The American Revolution, MR-Press, New York 1960 und M. Harrington, The Accidental Century, New York 1965, illusionsloser bei H. Marcuse in „One Dimensional Man“, New York 1965.
Einige theoretische Implikationen des Automationskomplexes für die marxistische Theorie der Wertschöpfung werden in dem Aufsatz von J. Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in seinem komplexen Buch „Theorie und Praxis“, Berlin-Neuwied 1963, diskutiert.
Wir können die Bibliographie des politischen Marxismus nicht abschließen, ohne den für die revolutionäre Gesamtbewegung unserer Zeit so gravierenden Gegensatz der Konzeption der chinesischen und sowjetischen Genossen zu nennen. Eine tiefgreifende Analyse, die die materiellen Grundlagen der verschiedenen Theorien des revolutionären Kampfes ausweist, die die problematische Entwicklung der Sowjetunion und Osteuropas in Richtung sozialistische Leistungsgesellschaft analysiert, die die philosophischen und soziologischen Grundlagen der Theorie der permanenten Revolution, von Mao Tse-tung reflektiert, fehlt uns leider noch.
Einige Bemerkungen darüber finden sich in der kleinen Broschüre von P. Sweezy, The Split in the Capitalist and Soczialist World, New York, 1962; W. Hofmanns, Die Arbeiterverfassung der Sowjetunion, Berlin 1956, die zusammen mit dem „Sowjetmarxismus“ von H. Marcuse zu lesen ist, können für die weiter oben gestellte Problematik der Sowjetunion die Grundlage abgeben.
Über die aktuell-politischen Auseinandersetzungen in ihrer vordergründig-propagandistischen Form ist nachzulesen in der dokumentierten Arbeit von H. Weber, „Konflikte im Weltkommunismus. Eine Dokumentation zur Krise Moskau-Peking“, München 1964.
R. D.
Rudi Dutschke: Aufrecht gehen, 1968 und der libertäre Kommunismus; Hamburg; 2012; LAIKA-Verlag; Bibliothek des Widerstandes: Bd. 12, S. 232 - 252