Willy Brandt und die Lehren der Geschichte
Wie ein rechter Sozialdemokrat den 50. Jahrestag der Novemberrevolution beging / Von Prof. Dr. Ernst Diehl
Die Besinnung auf die deutsche Novemberrevolution und ihre Lehren ist von ungebrochener Aktualität. Das haben die vergangenen Wochen, wenn auch in prinzipiell unterschiedlicher Weise, in beiden deutschen Staaten bewiesen. Unter dem Einfluß der Realität des sozialistischen Staates deutscher Nation, in dem das Vermächtnis dieser ersten Revolution der deutschen Arbeiterklasse gegen den deutschen Imperialismus und Militarismus in Ehren erfüllt worden ist, und auf Grund der Fragen westdeutscher Werktätiger nach den Lehren der Revolution für Westdeutschland, sah sich der Vorsitzende der westdeutschen Sozialdemokratie, Willy Brandt, vor wenigen Tagen gezwungen, zu den Ereignissen des November 1918 Stellung zu nehmen.
Brandts Auftreten erfolgte nicht anläßlich jenes Tages, an dem sich der Höhepunkt der revolutionären Kämpfe der deutschen Arbeiter, Matrosen und Soldaten zum fünfzigsten Male jährt. Er sprach vielmehr am 10. November, an jenem Tag also, an dem vor einem halben Jahrhundert die von der Konterrevolution mit der Leitung der Regierungsgeschäfte beauftragten rechten sozialdemokratischen und zentristischen Führer ihre Tätigkeit aufnahmen, um die Revolution abzuwürgen. Ist schon die Wahl des Zeitpunktes für Brandts Rede symptomatisch, so die Wahl des Ortes nicht weniger. Brandt sprach nicht etwa in Kiel, Hamburg, Bremen, Stuttgart, nicht in einer der Städte, von denen die revolutionäre Erhebung des November 1918 ausging. Er begab sich nach Bad Godesberg, das mit der Novemberrevolution so gut wie nichts, dafür aber um so mehr mit der Kapitulation der rechten sozialdemokratischen Führung und ihrem Komplott mit dem westdeutschen Imperialismus zu tun hat. Bekanntlich wurde 1959 dort jenes Programm der westdeutschen Sozialdemokratie verabschiedet, in dem der völlige, uneingeschränkte Übergang auf die Positionen des westdeutschen staatsmonopolistischen Kapitalismus proklamiert ist.
Hauptfrage jeder Revolution
So ist es den auch kein Wunder, daß es Brandt in seiner Rede einzig und allein um die Rollte rechter sozialdemokratischer Führer im Dienste der Macht des deutschen Finanzkapitals, als Verfechter der Konterrevolution ging, vor 50 Jahren und im heutigen Westdeutschland.
Brandts Kernsthese ist, daß im Herbst 1918 die sozialdemokratische Partei „auf die Aufgaben der Macht im Staate nicht oder kaum vorbereitet war; daß sie es gerade in dieser Frage schwer hatte, mit sich selbst ins reine kommen …“. Heute aber habe die Sozialdemokratische Partei, aus „Unzulänglichkeiten der Vergangenheit lernend, ein neues und nicht mehr zu zerstörendes Verhältnis zur Macht im Staat gewonnen“.
In der Tat ist, das haben die Marxisten-Leninisten immer gesagt, die Frage der Macht die Hauptfrage jeder revolutionären Umwälzung, und Klarheit darüber ist die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg jeder Revolution. Aber: Wenn es um die Macht und den Staat geht, muß doch zuerst immer die Frage beantwortet werden: Macht für wen und in wessen Staat? Es entspricht nur der alten, von den rechten sozialdemokratischen Führern schon von einem halben Jahrhundert, angewandten Taktik des Volksbetrugs, daß Brandt die Klassenposition dieser Führer mit demagogischen Reden zu vernebeln sucht. Die unumstößlichen geschichtlichen Tatsachen zeigen aber, was Brandt und andere rechte sozialdemokratische Führer wirklich meinen, wenn sie von Macht und Demokratie reden.
Scheidemann, rechter sozialdemokratischer Führer und Staatssekretär in der kaiserlichen Kriegsregierung des Prinzen Max von Baden, erklärte in der Sitzung des Kriegskabinetts am 7. November 1918: „Die Vorgänge in den Küstenstädten und in Hannover zeigen, daß Teile des Reichs in Revolution stehen … Dem außerordentlich geschickten Eingreifen des Abgeordneten Ebert ist die letzten Abende noch gelungen, die Massen ruhig zu halten … Man kann die Massen auch jetzt noch im Zaum halten, wenn man Konzessionen macht … Wir sind bis heute unseren Zusagen treu geblieben, wir haben unseren Ruf auf das Spiel gesetzt … Sie, meine Herren, und der Herr Reichskanzler müssen doch einsehen, daß wir alles getan haben, was wir konnten, um die Massen bei der Stange zu halten.“
Das sagt etwas anderes als Brandts schöne Phrasen über die von rechtsozialdemokratischen Führern angeblich angestrebte „Demokratie als Herrschaftsform des Volkes für das Volk“. Es zeigt: Die rechten sozialdemokratischen Führer haben sogar die verrottete volksfeindliche Monarchie retten wollen und hatten nur die eine Sorge, die Massen davon abzuhalten, auf demokratische Weise die längst überfällige demokratische Umwälzung zu vollziehen: durch die Volksrevolution.
Als die Arbeiter und Soldaten sich dennoch in einer gewaltigen demokratischen Aktion erhoben, haben diese verräterischen Führer alles getan, um die Macht der Krupp, Thyssen, Siemens und anderen Rüstungsmonopole sowie des preußischen Militarismus zu retten, der Kräfte also, die für die Entfesselung des ersten Weltkrieges und die Millionen Toten auf den Schlachtfeldern verantwortlich waren. Die rechten sozialdemokratischen Führer haben alles getan, um die demokratische Bewegung des werktätigen Volkes für die Beseitigung dieses Unrechtsstaates und für eine gesicherte friedliche, demokratische und sozialistische Entwicklung Deutschlands zu zerschlagen.
Die rechten sozialdemokratischen Führer hatten also schon vor fünf Jahrzehnten in der Grundfrage des Klassenkampfs, in der Frage der Macht, nachweisbar die Positionen der Konterrevolution, die Position der erbitterten Feinde der Demokratie und des gesellschaftlichen Fortschritts bezogen. Der Zweck ihres Bündnisses mit Monopolkapital und kaiserlichen Generälen, so erklärte General Groener, „war die restlose Bekämpfung der Revolution, Wiedereinsetzung einer geordneten Regierungsgewalt, Stützung dieser Regierung durch die Macht einer Truppe“.
Volksfeindliche Koalition
Deswegen ist es eine infame Heuchelei, wenn Brandt jetzt sagte, daß damals „vor allem die Feinde der Demokratie viel zu zögernd und zimperlich angegangen worden sind“. Gegen die Feinde der Demokratie gingen die rechten Führer der Sozialdemokratie überhaupt nicht vor, sondern sie bildeten eine volksfeindliche Koalition mit ihnen gegen die Arbeiterklasse und die anderen Werktätigen, die für Demokratie und sozialen Fortschritt kämpften. Der rechte Sozialdemokrat Noske übernahm das Oberkommando über die konterrevolutionären Truppen und Freikorps zur Niederschlagung der revolutionären Arbeiter. Und das Geschwätz Brandts von Recht, Freiheit und Moral, für die angeblich die rechten sozialdemokratischen Führer damals und immer eingetreten seien, erweist sich als Rechtfertigung für den blutigen Terror, mit dem die konterrevolutionären Kräfte 1918 die Machtfrage für sich entschieden und dem Tausende revolutionäre Arbeiter zum Opfer fielen.
In der konterrevolutionären Politik rechter sozialdemokratischer Führer lagen die entscheidenden Ursachen für die Niederlage der Werktätigen in der Novemberrevolution und ebenso für den Untergang der Weimarer Republik. Im Einklang mit maßgeblichen Ideologen des westdeutschen Finanzkapitals behauptet Brandt, damals sei eine demokratische Entwicklung in Deutschland mißlungen, weil „die Mehrheit des Volkes für Demokratie keine gewachsene und gefestigte Beziehung hatte.“ Damit verleumdet Brandt all jene demokratischen Bestrebungen und Traditionen, die tief in der Geschichte des deutschen Volkes wurzeln, deren konsequenteste Kraft seit zwölf Jahrzehnten die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung ist, die in der revolutionären Erhebung der deutschen Arbeiterklasse in der Novemberrevolution zum Ausdruck kam und die in der DDR erstmalig zum Siege geführt wurden. Nicht auf die deutschen Kommunisten, nicht auf klassenbewußte Sozialdemokraten und Gewerkschafter fällt die Verantwortung für die Schwäche der Demokratie im Weimarer Staat und dessen Untergang. Diese Verantwortung liegt völlig bei den rechten sozialdemokratischen Führern, bei deren Bekenntnis und ihrem aktiven Eintreten für die Macht des deutschen Finanzkapitals.
Warum aber erklärt Brandt trotz dieser eindeutig konterrevolutionären Position rechter sozialdemokratischer Führung, daß die Sozialdemokratie im Herbst 1918 auf die Aufgaben der Macht im Staate – und das heißt doch für ihn tatsächlich nur: der Rolle der Erfüllungsgehilfen für das Monopolkapital – nicht oder kaum vorbereitet gewesen sei?
Kampfansage an die Arbeiterklasse
Brandt greift damit offensichtlich all jene an, die sich damals selbst in der Sozialdemokratischen Partei gegen die Preisgabe jeder eigenständigen Politik wandten und sich gegen den bedingungslosen Übergang auf die Seite des deutschen Imperialismus und die konterrevolutionäre Aktivität der rechten Führer der Sozialdemokratie aussprachen. Doch Brandts diesbezügliche Feststellung ist natürlich vor allem auf die westdeutsche Gegenwart bezogen: Die Lehre, die Brandt für sich und seinesgleichen aus den Ereignissen vor 50 Jahren ableitet, besteht darin, die Unterordnung der Arbeiterklasse und aller anderen Werktätigen unter das imperialistische System noch umfassender und totaler zu vollziehen. Ihm geht es darum, wie er erklärt „die Integration des arbeitenden Menschen in unserem (dem Bonner – E. D.) Staat zu verwirklichen“. Genau das praktizieren die rechten sozialdemokratischen Führer mit ihrer Zustimmung zur den Notstandsgesetzen, mit der sogenannten „konzertierten Aktion“, mit ihrem Druck auf die Gewerkschaften und ihrer aktiven Mitwirkung bei der geistigen Manipulierung der westdeutschen Werktätigen im Sinne des westdeutschen Ausbeuterstaates. Brandts Erklärung ist damit eine grundsätzliche Kampfansage an die Arbeiterklasse, auch an solche Mitglieder, Funktionäre und Anhänger der Sozialdemokratie, die für eine demokratische Alternative in Westdeutschland, gegen Revanchepolitik, für Abrüstung und das Recht der Arbeiter auf Mitbestimmung eintreten. Willy Brandt hält nicht nur an der Kontinuität des Verrats rechter sozialdemokratischer Führer an den Interessen der Arbeiterklasse fest. Mehr noch, er proklamiert die weitere Eskalation dieses Verrats.
Vor dem Karren einer bankrotten Politik
Wer so bedingungslos auf den imperialistischen Bonner Staat, diese Diktatur einer kleinen monopolkapitalistischen Minderheit, eingeschworen ist, muß der Macht der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen in den sozialistischen Ländern mit Furcht und Haß gegenüberstehen. Deswegen sind die haßerfüllten Angriffe Willy Brandts gegen die Diktatur des Proletariats, diese höchste Form der Demokratie, diese Macht der ungeheuren Mehrheit des Volkes, kein Zufall. Diese Verleumdungen sind mit der konterrevolutionären Aktivität koordiniert, mit der rechte sozialdemokratische Führer im Rahmen der sogenannten „neuen Ostpolitik“ die Staatsmacht der befreiten Arbeiterklasse in den sozialistischen Ländern zu zersetzen versuchen. Der 21. August 1968 hat zwar die völlige Aussichtslosigkeit solcher Absichten gezeigt. Aber Willy Brandt proklamiert die Fortsetzung dieser bankrotten Politik. Seine Rede macht bis zu Ende klar: Die rechten sozialdemokratischen Führer wollen ihre Rolle als Feind des Sozialismus, als Feinde der Demokratie, als Erfüllungsgehilfen des deutschen Monopolkapitals bis zu Ende gehen. Jegliche Illusionen über die Politik dieser Führer sind daher fehl am Platz.
Das massive Bekenntnis Brandts in seiner Godesberger Rede zum Bonner Staat und zur Macht der Monopole zeugt nicht von Stärke. Es wird die Politik der rechten sozialdemokratischen Führer nicht aussichtsreicher machen, sondern die politische Krise in der westdeutschen Sozialdemokratie nur noch weiter verschärfen. Die Interessen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten können in Westdeutschland nur durchgesetzt werden, wenn die Macht auch hier nicht in den Händen der monopolkapitalistischen Reaktion bleibt, sondern die Lehren der Novemberrevolution durchgesetzt werden und die Massen ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen. Niemand vermag in unserer Zeit, in der der Sozialismus zur entscheidenden gesellschaftlichen Kraft geworden ist, auf die Dauer eine solche Entwicklung aufzuhalten.
Neues Deutschland (B), 14.11.1968