Ein Demonstrationszug in Aktion
„Der 9. November 1918 traf mich in aller Frühe im Lokal Karlsgarten in Neukölln. Dort fand die von der Stadtverwaltung eingerichtete Essensausgabe für Urlauber und durchreisende Soldaten statt. Hier war auch, ohne daß das verabredet gewesen wäre, Treffpunkt der Deserteure, das heißt der Frontsoldaten, die nicht mehr gewillt waren, an die Front zurückzufahren, sondern den immer deutlichen erkennbaren aufstand in Berlin erleben oder mitmachen wollten …
Um die Sache vorwärtszutreiben, schlug ich vor, in einem großen Demonstrationszug zu den in Kasernen umgewandelten Schulen Neuköllns zu ziehen, den dort untergebrachten Soldaten zu erklären, der Krieg sei zu Ende, und sie aufzufordern, sich unserem Zuge anzuschließen. Der Vorschlag wurde begeistern und einstimmig angenommen. Sogleich setzte sich ein großer Demonstrationszug zur Schule in der Weisestraße in Bewegung. Beim Nahen des Zuges versuchten Offiziere und Feldwebel die Eingänge der Notkaserne zu versperren. An allen Fenstern standen Soldaten, fast alles junge Männer zwischen 17 und 21 Jahren, nur wenige älter. Als ich ihnen mit lauter Stimme den Zweck unseres Kommens auseinandersetzte und sie aufforderte, herunterzukommen und sich uns anzuschließen, war es mit der Befehlsgewalt der Offiziere zu Ende. Die Soldaten räumten die Sperren weg, und der größte Teil schloß sich uns an.
Dann ging es zur Schule in der Erkstraße am Rathaus. Hier hatten wir in kurzer Zeit denselben Erfolg. Unser Zug war nunmehr auf Tausende angeschwollen, als wir beim Neuköllner Polizeipräsidenten Erk-, Ecke Kaiser-Friedrich-Straße anlangten …
Die Schutzleute vor dem Polizeipräsidium zogen sich bei unserem Kommen hinter die Eingangstür zurück und wollten sie schließen. Nachdem wir ihnen klargemacht hatten, daß wir nur verlangen mit einer Delegation von fünf Mann mit dem Polizeipräsidenten verhandeln zu können, öffneten sie die Tür. In der Verhandlung mit dem Polizeipräsidenten verlangten wir die sofortige Entwaffnung der Schutzleute, die Besichtigung der politischen Häftlinge sowie derer, die kleinerer Vergehen beschuldigt waren. Nach der Lage der Sache blieb ihm nichts anderes übrig, als unsere Forderung zu erfüllen. Die Schutzleute lieferten ihre Waffen ab, die von uns unter Verschluß und Bewachung genommen wurden. Eine Anzahl politisch Inhaftierter ließen wir frei, ebenso einige wegen Notdelikten Festgenommene, darunter einen Jungen, der ein Brot gestohlen hatte. Einige Schieber und zwei Dirnen ließen wir drin.
Und weiter ging der Zug zu der in der Nähe befindlichen Rütlischule. Dort fanden wir die schweren Tore verschlossen. Nach Verhandlungen, die durch ein Guckloch geführt wurden, erklärte ein Offizier, daß ich allein eintreten könne. Sollten wir jedoch versuchen, den Eingang zu erzwingen, würde er den Befehl zum Feuern geben. Wir kamen überein, daß ich allein hineingehe. Käme ich aber nicht in zehn Minuten wieder heraus, würde man trotz der Drohungen des Offiziers das Schulgelände stürmen. Ich ging also allein hinein und sah auf dem Hofe zwei oder drei Kompanien unter Waffen angetreten. Auf meine Frage, was das zu bedeuten hätte, wurde mir die Gegenfrage gestellt, ob ich mir nicht klar darüber sei, in die Höhle des Löwen geraten zu sein. Ohne darauf einzugehen, schilderte ich vor den Kompanien mit so lauter Stimme, daß es auch meine draußen stehenden Kameraden hören mussten, die politische Lage und den Zweck meines Kommens und wies besonders auch darauf hin, daß sich uns bereits die Soldaten aus den übrigen Neuköllner Schulen angeschlossen haben und draußen stehen. Dann forderte ich, daß die Mannschaften und Offiziere die Waffen niederlegen. Auf die Frage eines Hautmanns, wer den dafür garantiere, daß ihnen nichts geschehe, wies ich auf unser Verhalten in den übrigen Schulen hin, machte aber darauf aufmerksam, daß ich infolge der Verabredung mit meinen Kameraden für nichts garantieren könne, wenn unsere Bedingungen nicht sofort angenommen und ich hinausgelassen würde. Die zehn Minuten seien um, und ich könne nichts mehr verhindern. Darauf nahm der Hauptmann unsere Bedingungen an und erteilte den Befehl, die Gewehre zusammenzustellen und die Tore zu öffnen.“
Willy Wille in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963