Das Volks-Elend 1918
Mit den zugemessenen Mengen kann hier niemand auf die Dauer auskommen, zumal abwechselnd die Brot-, die Fett-, die Kartoffel- und die Fleischmenge herabgesetzt wurde. Nur Gemüse war in der Berichtszeit reichlich vorhanden; Wild und Geflügel ist in Berlin fast gar nicht haben; Fische und Räucherwaren reichen bei weitem nicht aus, und das Obst ist trotz der guten Ernte hochbezahlte Seltenheit. Die städtischen Behörden haben sich in anerkennenswerter Weise die größte Mühe gegeben, die Reichshauptstadt vor dem Hunger zu bewahren. Aber ihre Mühe, wäre vergeblich gewesen, wenn sich nicht als das Rettungsmittel, zu dem alle gegriffen haben, der gesetzlich untersagte Schleichhandel dargeboten hätte, der an sich unser ganzes amtliches Ernährungssystem über den Haufen wirft. Durch die mit ihm verbundene außerordentliche Erhöhung aller Preise – 1 Pfund Butter kostet jetzt hintenherum 24 Mark, 1 Ei 1,50 Mark – ist er auf der Dauer nur den Reichbemittelten von Nutzen, während er die weniger Zahlungsfähigen, die ihn leider ebenfalls nicht entbehren können, schließlich doch nur an den Bettelstab bringt…
Mit der Lebensmittelnot verbindet sich eine stetig steigende Knappheit an Bekleidung und an Schuhwerk. Beides ist im Preise fast unerschwinglich. Durch den Sommer hat man sich mit dem Vorhandenen recht und schlecht einigermaßen durchgeschleppt. Für den Winter stehen nun aber Hunderttausende vor der für sie unlösbaren Frage, wie sie mit ihren bescheidenen Mitteln sich kleiden und wie sie Schuhe und Stiefel beschaffen sollen, um derentwillen man nächtelang vor den Schuhgeschäften harren muß.“
„Archivalische Forschungen 4/IV“ in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963
Es geht so nicht weiter. Unsere Kollegen gehen körperlich zugrunde. Seit zwei Jahren steigen die Preise für Gebrauchsgegenstände in geradezu unverschämter Weise. Waren, die in Deutschland hergestellt werden, sind um 300 bis 400 v. H. und mehr teurer geworden. Um ein Paar Arbeitshosen zu kaufen, die früher mit 4 bis 5 Mark bezahlt wurden, dazu gehört jetzt ein Wochenlohn. Wir haben in vier Jahren 50 v. H. Lohnerhöhungen bekommen, schnöde Gewinnsucht aber hat alles um 200 v. H. verteuert. Daran ist jedoch nicht der Krieg, sondern die Gier nach Kriegsgewinn schuld…
Trotz fünfzigprozentiger Lohnerhöhung müssen unsere Kollegen darben. Es reicht nicht für Schleichhandelspreise, von den rationierten Waren werden sie nicht satt … Unsere Kinder darben, es fehlt am Nötigsten – es geht einfach über unsere Kraft.
Thomas, „Eingabe der Dachdecker“ in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963
Bei Tag und Nacht, in Wind und Wetter standen Frauen und Kinder vor den Geschäften Schlange. Wurden die Geschäfte am Morgen zur festgesetzten Zeit geöffnet, waren alle Lebensmittel in wenigen Minuten ausverkauft. Viele Menschen, die schon die ganze Nacht vor den Geschäften gewartet hatten, mussten müde und hungrig ohne Lebensmittel ihren Heimweg antreten.
Zu jener Zeit hielt der Tod außerordentlich reiche Ernte. Die Leichenwagen, mit denen die Toten zu den Friedhöfen transportiert wurden, reichten nicht mehr aus. Beobachtete man nach zweiundzwanzig Uhr die Straßen, die zu den Friedhöfen führten, so fielen Möbeltransportwagen mit heruntergelassenen Schutzgardinen besonders auf. Wurde eine Gardine ein wenig in die Höhe gehoben, so zeigte sich Sarg für Sarg.
Otto Franke ,„9. November“ in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963
Zu den auffällig in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit bedrohten und schon jetzt sichtlich beeinträchtigten Kindern gehören die in besonders raschem Wachstum befindlichen, etwa 9 bis 15jährigen. Dürr und leichenblaß schießen dies Kinder, zu Haut und Knochen abgemagert, in die Höhe: ein bejammernswerter Ersatz für das Arbeitsheer der nächsten Zukunft …
Alle diese schwächlichen Kinder müssen Schulen besuchen, in denen infolge der mangelnden Reinigungsmittel, wie Seife und ganz besonders Stauböl, die gründliche Reinhaltung von Staub und Schmutz nicht mehr möglich ist, in denen infolge Kohlenmangels die Heizungen und infolgedessen wieder die Lüftung viel, wenn nicht alles zu wünschen übrig lässt. Das sind die Kinder, die in mangelhaften Kleidern und durchlässigen Schuhen Wind und Wetter mehr als sonst ausgesetzt sind; denn ihre Mütter sind gezwungen, tagsüber der Lohnarbeit nachzugehen; die sind die bedauernswerten Kinder, die aufsichtslos der Straße anheimfallen oder schon in frühestem Morgengrauen nach Kohle und Lebensmitteln sich anstellen müssen. Das sind endlich die Kinder die des kärglichsten Broterwerbs willen schutzlos unzweckmäßige Arbeit auf sich nehmen müssen. Wie im ganzen die Widerstandsfähigkeit der Schulkinder gelitten hat, das zeigt die gesteigerte Hinfälligkeit gegenüber akuter Erkrankungen. Zu Tausenden wurden auch die Kinder von der Grippe* ergriffen, und elend und matt erscheinen die Genesenen wieder in der Schule. Ein Teil ist der Krankheit erlegen.
* Im Sommer 1918 kommt es zu einer verheerenden Grippeepidemie, die in Deutschland rund 150 000 Todesfälle zur Folge hat.
Thiele/Lorentz, „Hungerblockade“ in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963
Den Behörden glaubt heute bei uns fast kein Mensch mehr etwas, am wenigsten, wenn sie amtlich aufmunternd sprechen.
Die Bevölkerung ist enttäuscht:
durch den U-Bootkrieg,
durch die Westoffensive,
durch die Versprechungen über Ernährungszufuhr aus der Ukraine und die sonstigen
Ergebnisse des sogenannten Friedens im Osten.
Sie ist ferner besorgt:
durch die Zweifel an der Zulänglichkeit unseres Mannschaftsersatzes gegenüber den
amerikanischen Truppennachschüben,
durch die Zweifel an der Möglichkeit, mit den Rohstoffen durchzuhalten, wo wir vom
Kapital zehren, während der Feind (Wie man wenigstens glaubt) nur die Zinsen verbraucht,
durch das Umsichtgreifen der Teuerung und Geldentwertung, wodurch die Haushaltungen
verkommen, die nötigsten Anschaffungen immer schwerer erschwinglich werden (besonders für Festbesoldete),
durch die Angst vor der Heizungs-, Beleuchtungs-, Verkehrs-, Ernährungs- und
Bekleidungsnot im kommenden Winter…
Sie ist mißtrauisch:
durch die Verschleppung der feierlich versprochenen preußischen Wahlreform,
durch die Befürchtung, wir würden gute Gelegenheiten zum Frieden verpassen, weil wir
Eroberungswünsche hegten oder die sonstigen Kriegsziele weitersteckten, als unsere Kraft reicht…
Sie ist unterernährt und deshalb schon aus psychologischen Gründen auch seelich weniger
widerstandsfähig.
Sie ist niedergedrückt:
durch die Verluste an der Front und durch die stete Furcht vor neuen Verlusten,
durch die Unmöglichkeit, ein Ende des Krieges abzusehen,
durch die fortschreitende Zersetzung Österreich-Ungars und die Gründe über die
Unsicherheit unsrer anderen Bundesgenossen,
durch das Herabsinken vieler einst sichergestellten Familien in Not und Verarmung.
Erhard Deutelmoser, „Die Ursachen des Zusammenbruchs/2“ in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963