Die unvollendete Novemberrevolution 1918

In ganz Deutschland wehte vor 50 Jahren die rote Fahne

Von Kurt Schacht

Machtgrundlagen des Imperialismus bleiben bestehen

Als positive Leistungen des „Rates der Volksbeauftragten“ wird oft herausgestellt, daß er den Belagerungszustand aufgehoben, die Vereins-, Meinungs- und Pressefreiheit gesichert, das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst und die Gesindeordnung außer Kraft gesetzt, den Achtstundentag und die Erwerbslosenunterstützung eingeführt hätte. Das war jedoch nicht das Verdienst dieser Regierung, sondern das Verdienst der kämpfenden Arbeiterklasse, die den größten Teil dessen, was die Regierung Ebert verkündete, bereit in den ersten Tagen der Revolution vollzogen hatte.

Unbestritten bleibt dagegen das „Verdienst“ des „Rates der Volksbeauftragten“, dem deutschen Imperialismus geholfen zu haben, seine Machtgrundlagen zu erhalten. Sogar die kaiserlichen Minister wurden von ihm in ihren Ämtern belassen. Ihnen zur Seite stellte man lediglich einen Beigeordneten der Mehrheitssozialdemokratie oder der USPD. Aus vielen überlieferten Äußerungen der damals handelnden Akteure von der Mehrheitssozialdemokratie und vom rechten Flügel der USPD geht auch heute noch die Angst vor einer sozialistischen Gesellschaft hervor, die man sich im Vergleich zur imperialistischen „Ordnung“ nur als Unordnung, Chaos und Unfähigkeit vorstellen konnte.

Den alten Staatsapparat durfte man nicht zerschlangen, weil man damit angeblich auch „jede Demobilisierung, jeder Verwaltungstätigkeit im Staat, ja das ganze gesellschaftliche Leben unmöglich“ gemacht hätte (Karl Kautsky in seiner gegen die Spartakisten gerichteten Schrift „Das Weitertreiben der Revolution“). Der Großgrundbesitz durfte nicht enteignet werden, um nicht die Versorgung zu gefährden. Da galt es eben vor allem, „ein verständnisvolles Zusammenwirken von Großgrundbesitz, Bauern und Landarbeitern zu gewährleisten“ (Otto Braun in „Von Weimar zu Hitler“). Die kapitalistischen Großbetriebe durften nicht sozialisiert werden, um die Produktion nicht zu stören und „der Geschäftswelt jenes Vertrauen einzuflößen, dessen sie bedarf, um sich zur Verausgabung größerer Mittel für Neuanlagen und Erneuerungen zu entschließen“ (Eduard Bernstein in „Die deutsche Revolution“).

Sozialisierung gefordert

Die damals außerordentlich populäre Forderung nach Sozialisierung der kapitalistischen Großbetriebe versuchte die Ebert-Regierung mit der Losung „Der Sozialismus marschiert“ und mit der Bildung der sogenannten „Sozialisierungskommission“ aufzufangen, die Ende November 1918 ihre Tätigkeit aufnahm und im Januar 1919 wieder einstellte, ohne außer einigen Erklärungen sichtbare Spuren hinterlassen zu haben.

Auch große Teile der sozialdemokratischen Mitgliedschaft forderten unverzüglich Schritte zur Sozialisierung. Resolutionen wie die des paritätisch zusammengesetzten Kieler Arbeiter- und Soldatenrates vom 22. November, in der gefordert wurde, daß „die Werke und Großbetriebe der Industrie sowie der Grundbesitz … sofort als Nationaleigentum zu erklären“ seien, gab es viele im ganzen Reich. Auch der erste Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte forderte die Regierung auf, unverzüglich mit der Sozialisierung des Bergbaus und der zur Sozialisierung reifen Industrie zu beginnen.

Teilweise gingen die Arbeiter dazu über, ihre Forderungen aus eigener Kraft zu verwirklichen. Von Ende November an überrollte eine Welle von Streiks viele Teile Deutschlands, in deren Mittelpunkt zunächst vorwiegend wirtschaftliche Ziele standen, später aber die Forderung nach Produktionskontrolle und Sozialisierung immer mehr hervortrat. Vornehmlich im Ruhrgebiet kam es zur zeitweisen Übernahme von Betrieben durch Arbeiter. …

Der historische Fehler

Vom Ergebnis her gesehen war die Novemberrevolution in jeder Hinsicht eine unvollendete Revolution. Unvollendet blieb die Aufgabe, Imperialismus und Kapitalismus zu entmachten; unvollendet auch die Aufgabe einer bürgerlichen Revolution, den Großgrundbesitz zu zerschlagen. Die Machtgrundlage des Imperialismus blieb erhalten. Bald sollte er zum zweiten Male die europäischen Völker in den Krieg hetzen und das deutsche Volk in den Krieg hetzen und das deutsche Volk in die nationale Katastrophe stürzen.

Im Prager Manifest von 1934 zog endlich auch die SPD die Lehren aus der Novemberrevolution. Daß die Sozialdemokratie „den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging“, wurde selbstkritisch festgestellt. Daran schloß sich die Folgerung, daß nach dem Sturz des Faschismus die Bürokratie von den alten Kräften gesäubert, die kapitalistische Großindustrie, die Großbanken und der Großgrundbesitz enteignet werden müssen, um ein für allemal die Wurzeln von Krieg und Faschismus auszureißen.

Gehalten hat sich die SPD-Führung nach dem Kriege im westlichen Teil Deutschlands an die Lehren des Prager Manifestes nicht. Wider alle geschichtlichen Erfahrungen stellte sie sich erneut an die Seite derer, die Deutschland und Europa zweimal ins Verderben stürzten und die heute mit dem Bestreben, ihre Macht auf den anderen Teil Deutschlands auszudehnen, in dem die Lehren der Novemberrevolution 1918 beherzigt wurden, eine neue Katastrophe heraufbeschwören könnten.

Die Andere Zeitung, Nr. 45; 07.11.1968, S. 9.