Staatsgewalt gegen die Streikfront

Der 30. Januar brachte Demonstrationen der Arbeiter und schwere Zusammenstöße mit der Polizei. Der „Vorwärts“ war verboten worden, weil er die Zahl der Streikenden nach Meinung des Oberkommandos zu hoch angegeben hatte. Ein Teil der Buchdrucker schloß sich dem Streik an. Die Situation begann kritisch zu werden…
Große rote Plakate verkündeten am Morgen des 31. Januar den verschärften Belagerungszustand und die Einsetzung der außerordentlichen Kriegsgerichte. Dazu noch folgende Mahnung des Oberbefehlshabers an die Groß-Berliner Bevölkerung: „Nachdem ich nunmehr den verschärften Belagerungszustand eingeführt habe, will ich die Bevölkerung nicht im Zweifel darüber lassen, daß ich jeden Versuch, die Ruhe und Ordnung zu stören, mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln unterdrücken werde. Ich warne daher jeden ordentlichen Bürger, sich irgendwie an öffentlichen Zusammenkünften zu beteiligen. Jedermann gehe ruhig seinen Pflichten nach und halte sich von Aufläufen fern. Bei dem Gebrauch der Waffe lässt sich ein Unterschied zwischen Ruhestörern und Unbeteiligten nicht machen.“
Der verschärfte Belagerungszustand und die „Mahnung“ des Oberbefehlshabers verfehlten ihren Zweck. Gewaltige Arbeitermassen stauten sich in den Straßen, besonders da, wo öffentliche Versammlungen stattfinden sollten. Die Polizei war durch 5 000 Unteroffiziere des Heeres aufgefüllt worden. Beritten und zu Fuß suchte sie der Masse Herr zu werden. Es gelang ihr nicht. Hatte sie einen Platz oder eine Straße „gesäubert“, staute sich die Masse an anderen Orten. Die Wut der Streikenden richtete sich nicht mehr allein gegen die Polizei, sondern auch gegen die wenigen Straßenbahner, die als Streikbrecher den Betrieb notdürftig aufrechtzuerhalten suchten. Bald lagen überall umgeworfene Straßenbahnwagen, besonders in den Zugangstraßen zum Alexanderplatz. Das war nicht mehr ein Demonstrationsstreik, das war der kritische Punkt, wo eine Massenbewegung zum Bürgerkrieg umzuschlagen droht.

Richard Müller, „Vom Kaiserreich zur Republik“, Wien 1924“ in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963

 

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