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1945 – Eine „Stunde Null“ in den Köpfen? Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus, Hrsg. Rainer Holze und Marga Voigt, edition bodoni 2016
Der Titel des Sammelbandes wurde sicher bewusst mit einem Fragezeichen versehen, hat doch die Mehrheit der Beiträge Personen und Organisationen zum Untersuchungsgegenstand, denen der Sturz des Faschismus in Deutschland und der Aufbau einer neuen Gesellschaft Ausgangs- und Zielpunkt ihres Denkens und Handelns war. Für Millionen Deutscher dagegen traf die Situation zu, für die die Metapher „Stunde Null“ steht. Sie hatten Hitler bis zum bitteren Ende Gefolgschaft geleistet.
Der erste Beitrag des Bandes wirft einen Blick auf die Gesamtheit der geistigen Situation nach dem 8.Mai 1945. Er benennt mit den Gegnern des parlamentarischen Systems in Wirtschaft, Armee, Bürokratie und Justiz die Kräfte, die Hitler zur Macht mit dem Ziel verhalfen, einen Eroberungs- und Vernichtungskrieg vorzubereiten und durchzuführen. Ohne aktive Mitwirkung oder geduldete Akzeptanz von Millionenmassen wäre jedoch ein derart totaler Vernichtungskrieg nicht zu führen gewesen. Rainer Holze und Reiner Zilkenat lenken deshalb mit Recht die Aufmerksamkeit auf die tiefgreifenden Veränderungen im Denken der meisten Deutschen, die die erfolgreiche ideologische Indoktrinierung durch das Hitlerregime hinterlassen hatte. Die Beurteilung des geistigen Zustandes der deutschen Bevölkerung nach der Befreiung vom Faschismus muss dies in Betracht ziehen. Vor diesem Hintergrund sind die nachfolgenden Beiträge des Sammelbandes zu verstehen, die als Vorträge auf dem gleichnamigen Kolloquium am 30.April 2015 gehalten wurden, das vom Berlin-Brandenburger Bildungswerk e.V. und dem Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V. initiiert worden war.
Günter Benser legt seine Position zur historischen Zäsur des Jahres 1945 dar. Er stellt sie in die drei großen Umbrüche des 20.Jahrhunderts: 1917-1919, 1944/45-1947 und 1989/90. Seinem Resümee ist zuzustimmen, dass „für all diese Umbrüche gilt, dass die hohen Erwartungen der hauptsächlichen Akteure nicht eingelöst werden konnten und dass die Fernwirkungen dieser Ereignisse den ursprünglich dominierenden Zielvorstellungen nicht entsprachen“. Für die Zäsur 1945 hebt er einen „allgemeinen sozialistischen Zug der Zeit“ in Ost- wie in Westeuropa hervor, der gern in der offiziellen Erinnerungskultur verschämt weggelassen wird. Zu den nachhaltigsten Umschwüngen, die mit der Befreiung vom Faschismus eintraten, zählt Benser die gravierenden Verschiebungen im Kräfteverhältnis der internationalen Mächte und eine neue Architektur internationaler Beziehungen. Deren Zerfall mit den Umbrüchen der Jahre 1989/90 und die verpassten Chancen, eine neue europäische Ordnung unter Einbeziehung Russland zu formen, sind für den Autor eine besorgniserregende Gefahr für eine gesicherte friedliche Entwicklung.

In dem Beitrag von Gisela Notz wird die Entwicklung der überparteilichen Frauenausschüsse in den westlichen Besatzungszonen und der SBZ vorgestellt. Im Mai 1945 schlossen sich Frauen in mehr als 5000 Frauenausschüssen vor allem in größeren Städten zusammen. Sie waren in ihren Zusammensetzungen und Aufgabenstellungen sehr differenziert. Ihre Aktivitäten reichten von vielfältig karitativen Tätigkeiten bis zu poltischen und wirtschaftlichen Forderungen. SPD-Frauenpolitikerinnen wollten mehr Frauen für die sozialistische Gedankenwelt und natürlich für die Partei gewinnen. Notz verdeutlicht, welchen Widerständen SPD-Frauen in ihrer eigenen Partei und in der Gesellschaft gegenüberstanden und wie mäßig in den ersten Jahren der Erfolg war. Der spätere Zusammenschluss im Deutschen Frauenring nach der Bildung der Bundesrepublik im Oktober 1949 sowie die bereits am 8.März 1947 in der SBZ erfolgte Gründung des Demokratischen Frauenbunds, dessen organisatorische Ausbreitung in den westlichen Besatzungszonen behindert und schließlich 1957 in der Bundesrepublik verboten wurde, waren Ausdruck des Scheiterns des überparteilichen Politikansatzes.
Peter Brandt vermittelt eine Analyse sozialdemokratischer Konzeptionen, die im Gegensatz zur politischen Programmatik der KPD-Führung keineswegs einheitlich, sondern in einigen wesentlichen Punkten – so in organisations- und bündnispolitischen Fragen, der außenpolitischen Orientierung sowie des spezifischen Demokratie-Verständnisses - durchaus unterschiedlich waren. Vorgestellt werden programmatische Überlegungen von Hermann Louis Brill und seinen Freunden, des „Zentralausschuss“ der SPD in Berlin mit Otto Grotewohl, Max Fechner und Erich W. Gniffke und des Kreises um Kurt Schumacher sowie deren Auswirkungen auf die Gestaltung der politischen Realität in den Besatzungszonen. Der Autor konstatiert, dass spätestens Mitte 1948 die von Schumacher und Viktor Argatz ausgearbeiteten Leitsätze der SPD zur Gestaltung einer sozialistischen deutschen Wirtschaftsverfassung gescheitert waren.
Auch Jörg Wollenberg (Zum Scheitern der Nachkriegspolitik der demokratischen Sozialisten nach 1945) und Andreas Diers (Die politischen Schulungen in britischen Kriegsgefangenenlagern 1945/46) stellen linkssozialistische Persönlichkeiten wie Willy Brandt, Hermann Louis Brill und Wolfgang Abendroth und ihre konzeptionellen Vorstellungen für ein Nachkriegsdeutschland vor. Dabei fördern die Autoren interessante Details ans Tageslicht, die in der sozialdemokratischen „Erinnerungskultur“ weniger Beachtung finden. Sie verdeutlichen, wie unterschiedlich die Lebenswege der linksozialistischen Mitstreiter um Willy Brandt und Hermann Brill nach dem Scheitern ihres konzeptionellen Ansatzes für ein freiheitliches und friedliches sozialistisches Deutschland verliefen.
Die Entscheidung, politischer Rückzug oder „Anpassung“ an die Machtstrukturen in SPD oder KPD um politisch weiter wirken zu können, prägt viele Biographien in Ost und West.
Im Beitrag von Jürgen Hofmann werden die konzeptionellen Überlegungen der KPD-Führung zur Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie und ihrer Hinterlassenschaft in der deutschen Bevölkerung dargestellt. Dabei wird auch auf das Wirken des Kulturbundes eingegangen, den Siegfried Prokop in seinem Aufsatz in den Mittelpunkt stellt. Er analysiert die Situation unter der Intelligenz und die Bemühungen des Kulturbundes – darunter die interessante Quelle über einen Vortrag von Ernst Niekisch 1946 zur ideologischen Situation - Angehörige der Intelligenz für den antifaschistisch-demokratischen Neuaufbau zu gewinnen.
Die beiden Fallstudien zur „Bremer Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus“ (Günter Benser) und zur Leipziger Organisation des NKFD (Kurt Schneider)belegen quellengestützt die basisdemokratischen Potenziale im Nachkriegsdeutschland.
Jörg Röslers Aufsatz rückt mit den deutschen Flüchtlingen aus dem Osten eine Gruppe in den wissenschaftlichen Fokus, die in der britischen (1,5 Millionen) und sowjetischen Besatzungszone (2 Millionen) eine beachtenswerte Bevölkerungsminderheit darstellten. Vergleichend analysiert er die Probleme wie die Maßnahmen der geistigen und materiellen Integration der Flüchtlinge in der SBZ und in der britischen Besatzungszone.
Die vorliegende Publikation beinhaltet insgesamt 17 Beiträge, darunter auch Erinnerungsberichte. Auf alle soll hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Eine kleine Auswahl von Foto- und Zeitdokumenten sowie ein Personenregister und eine Literaturzusammenstellung zum behandelten Forschungsgegenstand haben die Herausgeber angefügt.

Der wissenschaftliche Beitrag des Konferenzbandes zur Würdigung des 70. Jahrestages des 8.Mai 1945 ist hoch zu schätzen, zumal vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Gedenkens im vereinten Deutschland. Wie der Befund der Studie von Harald Wachowitz über die politischen Interpretationen des 8.Mai 1945 im Spiegel der zeitgenössischen Presse bis in die Gegenwart ausweist, fallen bundesdeutsche Politiker und geschichtspolitische Debatten nach dem Ende der DDR Jahr für Jahr weiter hinter die mit der Weizsäcker Rede erreichten Positionen zurück.

Gleichwohl wird mancher Leser vielleicht etwas enttäuscht sein. Der Band, der eine Untersuchung der geistigen Situation im Nachkriegsdeutschland verspricht, lässt viele politischen Akteure und sozialen Kräfte unberücksichtigt. Der Fokus auf die Arbeiterparteien verengt meines Erachtens den Blick auf die gesellschaftliche Realität. Neben dem bürgerlichen Lager und den Kirchen vermisst die Rezensentin unter anderem Untersuchungen zur geistigen Situation unter den Jugendlichen, der Landbevölkerung, den Kriegsheimkehrern und nicht zuletzt den Opfern der rassistischen Verfolgungen.

Elke Reuter

 

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