„Steh auf, Arthur, heute ist Revolution!“

„In der Nacht vom 8. zum 9. November traf ich Genossen Fritz und erhielt von ihm den Auftrag, zwischen vier und fünf Uhr morgens Genossen Schöttler zu holen und mit ihm in der Zeit von sechs bis sieben Uhr vor der Waffen- und Munitionsfabrik in der Kaiserin-Augusta-Allee in Charlottenburg Flugblätter zu verteilen. Danach sollten wir in einem bestimmten Lokal die Waffen zur Verteilung fertigmachen und um neun Uhr bei der Organisation des Demonstrationszuges behilflich sein. Als ich frühmorgens am 9. November unseren Arthur Schöttler aufstöberte, weckte ich ihn mit den Worten: „Steh auf, Arthur, heute ist Revolution!“ Er glaubte zu träumen. Erst als ich ihn nochmals rüttelte, riß er die Augen auf und sagte: „Mensch, Cläre, bist du´s?“ Er sprang schnell in die Hosen, und nach zehn Minuten waren wir aus dem Hause.
Schon zur ersten Schicht standen wir beide vor der Waffenfabrik und verteilten unsere Flugblätter, in denen die Arbeiter aufgefordert wurden, um neun Uhr die Betriebe zu verlassen. Nachdem wir unseren Auftrag gegen sieben Uhr erfüllt hatten, gingen wir in ein Lokal in der Erasmusstraße. Wir waren froh, uns ein bisschen aufwärmen zu können. Dort halfen wir schnell den anderen Genossen die Revolver auspacken und die Patronen in die Magazine füllen …
Endlich waren alle Waffen ausgegeben, und nun ordnete sich der Demonstrationszug. Voran die bewaffneten Männer, dann die unbewaffneten und dann die Frauen. Schnell reichte mir Arthur noch einmal die Hand zum Abschied, ein fester Druck und: „Mach´s gut, Cläre!“ Fort lief er an die Spitze des Zuges.
Ohne auf Widerstand zu stoßen, marschierte unser Zug die Kaiserin-Augusta-Allee entlang zur Schloßbrücke. Entwaffnet und besetzt wurde ohne ein Schuß die Polizeiwache, die Gaswerke, alle Betriebe, die Lazarett- und Schlosswache, das Rathaus Charlottenburg und die Technische Hochschule. Unser Zug zählte längst Tausende von Menschen und endete gegen Mittag am Reichstag, wo wir mit anderen Zügen zusammentrafen.
Längst hatte ich Arthur aus den augen verloren. Andere Genossen und Freunde begegneten uns. Freund, Umarmung, Jubel bei denen, die sich nach monatelangen Aufregungen, Ängsten und Arbeiten wiedersahen. Ich war am Ende meiner Kräfte, saß auf den Treppenstufen des Reichstages, bis sich die Menge verlaufen hatte, und fuhr in der Dunkelheit todmüde, aber glücklich nach Hause.“

„Cläre Casper-Derfert Steh auf in „Berliner Leben 1914 bis 1918“, Dieter und Ruth Glazer, Berlin 1963

 

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